DJ Hell meets Jonathan Meese "Jetzt ist Zeit für Streit, ich will streiten"
19.03.2021, 18:12 Uhr
Diese beiden sind sich geradezu unheimlich einig: Jonathan Meese und DJ Hell.
(Foto: Daniel Richter)
DJ Hell, Techno-Größe, möchte, dass Jonathan Meese, Kunst-Größe, ihm ein Cover für sein neues Album gestaltet. Nachdem der Künstler gut 60 Entwürfe abliefert, wird dem Musiker klar: "Meese kann ich mir nicht leisten." So schlägt der 58-Jährige, der seit gut 40 Jahren im Geschäft ist, als Gegenleistung ein gemeinsames Album vor. Das Ergebnis ist ein Gesamtkunstwerk: Die Tracks und Beats von DJ Hell treffen auf coole Sprechperfomances von Jonathan Meese und die seiner 91-jährigen Mutter Brigitte. Als Schmankerl gibt es zum Vinyl-Album ein Poster sowie ein Kunstbuch mit Collagen von Meese und Daniel Richter, ebenfalls Kunst-Größe. Kunst für alle, ein intensives Erlebnis zum Hören und Sehen. Und in dieser Kombination sogar bezahlbar. Am Erscheinungstag gibt es coronabedingt leider keine Party, aber "das kann man ja noch irgendwann machen", sagt der 51-jährige Meese. Die Entstehungsgeschichte zum Album "Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst" ist schon jetzt legendär. Mit ntv.de haben beide Künstler über Frauen, Freundschaft, Angst, neue Projekte und ihr erstes Album gesprochen. Hier die Essenz eines sehr dichten Zoom-Gesprächs.
ntv.de: Hallo, wie schön, alle sind pünktlich. Duzen oder Siezen und wo treffe ich wen an?
Jonathan Meese: Du. Ich bin in Wien und baue hier meine neue Ausstellung "Die Dr. Mabusenlolita" in der Galerie Krinzinger auf. Das ist meine erste Kunstreise seit einem Jahr.
DJ Hell: Ich bin zu Hause in München.
Von Jonathan weiß man, dass Frauen in seinem Leben wichtig sind. Deine Mutter begleitet Dich oft und deine Freundin ist auch über 20 Jahre an deiner Seite. Gerade war Weltfrauentag, wie habt ihr den verbracht?
Meese: Ich habe meine Mutter geehrt, wie jeden Tag. Wir waren zusammen im Auto von Berlin nach Wien. Sie ist jetzt zweimal geimpft und freut sich wahnsinnig, dass es endlich wieder losgeht.
DJ Hell: Für mich war das nie ein Thema. Seit den 90er-Jahren arbeiten in meiner Firma "gigolo records" ausschließlich Frauen, damit bin ich immer gut gefahren.
Meese: Der Weltfrauentag spielt für mich keine Rolle. Große Künstler waren Frau und Mann zugleich, die hatten alle Identitäten. Ich empfinde mich auch als Mann, Frau und Kind. Ich bin von Frauen umgeben (er hält eine Collage von Daniel Richter hoch, die zeigt seine Mutter und Warhol). Andy Warhol hat alle Grenzen gesprengt. Musik macht das auch. Mann, Frau, sachlich, unsachlich - ich kann nicht so limitiert denken, das konnte ich nie. Mir ist das zu begrenzt.
DJ Hell: Ich unterschreibe das alles, so wie Jonathan es gesagt hat. Als Kind war es meine Traumvorstellung mal Hausmann zu werden - die Kinder von der Schule abholen, Essen machen, putzen, alles sauber halten.
Daraus ist aber nichts geworden ...
DJ Hell: Ich war ja noch jung (lacht leise).
Würdet Ihr Eure Beziehung zueinander schon als Freundschaft bezeichnen oder ist das etwas, was länger wachsen muss? Eure Wege haben sich erst vor zwei Jahren gekreuzt.
Meese: Für mich ist das totale Freundschaft, sogar schon Familie. Hier stimmt alles: die Energie, die Zukunftsfähigkeit, die Liebe, die Hingabe. Ich vertraue DJ Hell total. Für mich ist das eine Freundschaft der Kunst.
DJ Hell: Das unterschreibe ich wieder alles. Da ist so eine tiefe Zuneigung zu Jonathan und Brigitte. Jetzt ist daraus dieses wunderbare, eigenständige, homogene Album entstanden. Ich höre es jedes Mal neu und bin geflasht. Jonathan, du hörst die Songs doch auch wieder und wieder.
Meese: Ja, ich liebe es, einen Song 20-mal auf Repeat zu setzen und seriell zu hören. Dann bilde ich Distanz und sage, das ist gar nicht von mir oder DJ Hell. Es ist von der Kunst gemacht worden oder vom Universum der Mutter Natur, wir waren nur der Blitzableiter für das Gesamtkunstwerk, es ist wie eine Oper, die sich aufbaut.
Apropos Oper, war Techno als Musikrichtung gesetzt?
DJ Hell: Nein, es war alles offen und frei. Editiert wurde erst, nachdem wir gemeinsam im Studio waren. Jonathan ist ein Sprachgenie, ein Stimmwunder und steht damit in der Tradition deutscher Bands und Frontmänner wie Blixa Bargeld und Gabi Delgado. Eine perfekte Symbiose kann alles machen.
Die drei Studioaufnahmen waren noch vor Pandemie-Beginn durch, wie lange dauert die Arbeit an so einem Album überhaupt?
DJ Hell: Das ist ein Prozess, an dem ich immer wieder in Abschnitten gearbeitet habe. Eineinhalb Jahre wurde geschraubt, normalerweise brauche ich fünf.
Meese: Man muss sich darauf einlassen. Ich bin mit DJ Hell in Berlin ins Studio gegangen und er sagte "mach doch mal". Die Wörter, die ich im Studio performe, sind immer bei mir, die sind auch in meiner Kunst. Im Atelier rede ich mit mir selbst, singe, schreibe Manifeste.
DJ Hell: Jonathan kann das Wort Kunst zwanzig Minuten bearbeiten oder zelebrieren. Ich hatte eher zu viel Material als zu wenig. Das Beste sind die Momente, die nicht geplant sind, die einfach passieren. Ich habe die künstlerische Freiheit, ein Lachen auch rückwärts abzuspielen, und daraus entsteht etwas völlig Unerwartetes.
Meese: Es gibt keine Fehler, man muss einfach machen. Der einzige Fehler wäre, es nicht zu machen.
Das Ergebnis hat viel Kraft. Hattest Du, Jonathan, keine Bedenken vor einem Musik-Profi zu singen? Als Kinder können wir alle einfach lossingen, aber später kostet das doch Überwindung.
Meese: Du hast es auf den Punkt gebracht, es geht um Profis und Kinder. DJ Hell ist der Profi und ich das Kind. Die meisten Menschen verlieren das Kindliche, lassen es sich abtrainieren. Professionell eine Platte herauszubringen, hat mich auch angemacht.
Deine Mutter singt zwei Tracks mit ...
Meese: Ich wollte meiner Mutter das Studio zeigen. So ein toller Ort, wie eine Tropfsteinhöhle, diese ganzen Lärmfänger, das sieht aus wie Kunst. Der Rest war dann ein Selbstläufer. Darf ich das sagen, DJ Hell? Wir haben ein nächstes Projekt. Etwas mit den Gebrüdern Grimm, Rotkäppchen, Schneewittchen - das ist so prall und reich.
DJ Hell: Märchen werden eine große Herausforderung für mich, das musikalisch neu zu erzählen, wird nicht einfach. Ich könnte mir eine hörspielartige, elektronische Oper vorstellen. Wir werden experimentieren und ich versuche, immer neue Wege zu beschreiten, neue Instrumente und Rhythmen zu finden.
Klingt spannend. Und wie herrlich, dass Eure Zusammenarbeit in die nächste Runde geht. Märchen können auch der Angstbekämpfung dienen. Im Titel eures aktuellen Albums taucht das Wort Angst gleich dreimal auf. Kennt Ihr dieses Gefühl gut?
Meese: Ich habe wahnsinnige Angst vor der Realität, das muss ich zugeben, aber keine Angst vor Kunst, Sehnsucht und Traum. Ich habe Angst, dass meine Mutter stirbt, unfassbare Angst. Oder, dass meine Liebsten krank werden.
Lähmt Angst oder treibt sie eher an, neue Wege zu gehen?
DJ Hell: Ich versuche aus der Angst etwas Positives zu holen oder kreativ umzusetzen. In 30 Jahren beruflicher Weltreisen habe ich gelernt, keine Angst zu haben und positiv auf Leute zuzugehen, in welcher Situation auch immer.
Der Titel Eures Albums ist also gerade im Zeichen von Corona positiv zu sehen?
Meese: Von meiner Seite total. Uns wird ja im Moment viel Angst gemacht. Ich finde Zensur in der Kunst ganz furchtbar. Wer Kunst zensieren will, will uns zu Zombies machen. Es ist schlimm, dass Künstler sich selber zensieren wollen. Sie gehorchen einem Herdentrieb, sagen, was man zu tun und zu lassen hat.
In der Pandemie wurden Kunst und Kultur als "nicht systemrelevant" bezeichnet, geschlossene Klubs, Theater, Opern- und Konzerthäuser oder Museen kommen für Künstler einem Berufsverbot gleich.
DJ Hell: Ich finde, die Clublandschaft und Musikkultur waren viel zu leise. Es gab nur vereinzelte Aktionen, keiner wollte Fehler machen, der Erste sein oder was riskieren.

Jonathan Meese in der aktuellen Ausstellung der Galerie Krinzinger in Wien, die noch bis zum 15. Mai zu sehen ist.
(Foto: Anna Lott Donadel)
Meese: Für mich hat im letzten halben Jahr die Politik die Maske fallen lassen. Sie hat die Kunst kleingemacht, zu Hobby und Freizeit abgestempelt. Diese Botschaft habe ich persönlich genommen und das tue ich selten. Daran werde ich mich abarbeiten! Kunst, Musik, Theater, Oper, das ist das, was übrig bleibt, das ist es, was dieses Land ausmacht. Für mich regiert gerade Zynismus.
DJ Hell: Ich unterschreibe wieder alles. Barack Obama hat in seiner Buchvorstellung gesagt, dass Kunst ein wichtiger Bestandteil in seinem Leben ist. Sie provoziert, zeigt neue Möglichkeiten, ist aufregend, fließt in seine Gedanken und sogar Entscheidungen ein. Wir haben dieses Album gemacht, weil es viele Antworten auf viele Fragen der Zeit beinhaltet: (er zitiert aus dem Album) Jetzt ist Zeit für Streit, ich will streiten.
Mit DJ Hell und Jonathan Meese sprach Juliane Rohr.
Meese X DJ Hell "Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst" limitiertes Hardcover Book mit 2 LP, Künstlerbuch und Poster, € 47,99 gibt es hier
Jonathan Meeses neue Arbeiten sind momentan in der Galerie Krinzinger in Wien zu sehen
Quelle: ntv.de