Leben

Neue Leipziger Schule Judy Lybke, ganz und gar nicht eigenartig

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Gerd Harry Lybke, bekannt als Judy, in den 80er Jahren in seinen ersten Galerieräumen in Leipzig.

Gerd Harry Lybke, bekannt als Judy, in den 80er Jahren in seinen ersten Galerieräumen in Leipzig.

(Foto: Galerie EIGEN + ART)

Leipzig: Hier wurde vor 40 Jahren die Galerie Eigen + Art gegründet, das Label "Neue Leipziger Schule" erfunden und in die Welt getragen. Judy Lybke ist der Kopf hinter diesem Erfolg. Kerstin Wahala, die Co-Chefin, ist seit 30 Jahren dabei. ntv.de hat beide in Berlin gesprochen.

Meisterhaft schafft er Begehrlichkeiten, seine Begeisterung reißt mit: Gerd Harry Lybke, von allen einfach Judy genannt, ist im komplexen Kunstdickicht der Typ, an den man sich erinnert. Nicht nur wegen seiner farbigen, dreiteiligen Anzüge, die er ausschließlich trägt. Sondern vor allem durch das, was er tut, schafft und bewegt. Noch zu DDR-Zeiten gründete er Eigen + Art, und machte nach der Wende daraus seine international agierende Galerie. Jetzt feiert er 40-jähriges Jubiläum. "Wir bestehen mit hoher Qualität auf Augenhöhe mit den 100 führenden Galerien der Welt", sagt Judy Lybke ntv.de selbstbewusst. Dabei hat er die Bodenhaftung offenbar nie verloren: Leipzig ist Basis geblieben. In Berlin betreibt er zwei weitere Standorte.

Rätselhafte Malereien von Neo Rauch in den großzügigen Leipziger Galerieräumen, die sich auf dem Gelände einer ehemaligen Baumwollspinnerei befinden.

Rätselhafte Malereien von Neo Rauch in den großzügigen Leipziger Galerieräumen, die sich auf dem Gelände einer ehemaligen Baumwollspinnerei befinden.

(Foto: Uwe Walter / Neo Rauch VG Bild-Kunst Bonn)

"Das sind wohl die kleinsten Galerieräume der Stadt", lacht Kerstin Wahala, Co-Chefin der Galerie, beim Treffen in der Auguststraße. In diesen Räumen zeigen sie seit 1992 große Kunst, etwa die von Neo Rauch. Er ist einer von Judy Lybkes jahrzehntelangen Leipziger Weggefährten. Und fest im Programm der Galerie verankert. Die Malereien des Künstlers sind weltweit begehrt, hängen in Museen und wichtigen Sammlungen. Judy Lybke gilt als der Erfinder des Etiketts "Neue Leipziger Schule", das es seit Anfang der 1990er Jahre für die rätselhaften Stimmungsbilder gibt. Er hat die Kunstströmung berühmt gemacht. "Neo Rauch hat die Tür zur Malerei wieder geöffnet", erzählt Lybke, denn figürliche Malerei war über die vorangegangenen Jahrzehnte zum No-Go geworden. Mit Rauchs Gemälden kam 2005 der bis heute anhaltende internationale Erfolg für die Galerie.

Es ist einerlei, ob ein bekanntes Sammlerpaar, zufällig in die Galerie verirrte Passanten oder eine ganze Schulklasse vor dem gebürtigen Leipziger stehen. "Sprechen Sie nie mit Unbekannten" ist das erste Kapitel in seinem schon oft gelesenen Lieblingsbuch "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow überschrieben. Da kann Lybke nur lächeln - er spricht charmant und sehr direkt jede und jeden an, liebt den Kontakt mit Menschen. Das mag so etwas wie das Erfolgsgeheimnis der Galerie sein. Wer hier arbeitet, sei auch Dienstleister, bringt es Kerstin Wahala auf den Punkt. Und wer beim Galeriebesuch nichts kauft, kann sich über ein geglücktes Kunsterlebnis in der Galerie freuen.

Es macht dem 62-Jährigen unendlich Spaß, Kunst zu vermitteln. Die Welt der Künstlerinnen und Künstler ist schließlich ein riesiger Kosmos. Als Galerist gehe man schrittweise mit der künstlerischen Entwicklung mit, die Chemie muss stimmen, findet Lybke. Es gehe schließlich nicht nur darum, einen Text und eine Biografie aufzusagen, erklärt Lybke. Dabei ist es egal, ob ein Kunstwerk fünfhundert, zehn- oder hunderttausende Euro kostet. Klar, der Kunsthändler will auch verkaufen, aber eben an die richtige Person oder die richtige Institution.

Eine zweite Chance

Lebensgeschichte besteht aus Geschichten. Judy Lybke hört man bei der Erzählung seiner DDR-Biografie gerne zu ­- am besten ohne Zeitlimit. Hat was von Abenteuer. Irgendwann schimmert jedoch durch, dass es keines war. Es war kompliziert. In der Armee fiel der junge Mann unangenehm auf. Er bekam eine zweite Chance, sollte lange Jahre in die Sowjetunion zur Ausbildung. Das schlug er aus, auch weil er nicht so weit wegwollte. Das wurde mit einem Berufs- und Studienverbot bestraft. Fortan galt er als asozial, da er keinen Beruf ausüben konnte. Indem man in der DDR keine Arbeit bekam, wurde man kriminalisiert, betont Lybke. Menschen wie ihm blieben oft nur morbide Gelegenheitsjobs, zum Beispiel als Bestatter. Ihn jedoch zog es mitten ins Leben und an die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Dort saß er stundenlang als Akt-Modell und schmiedete seine lebenslangen Verbindungen zu Künstlern.

Foto zum 40. Geburtstag der Galerie: Judy Lybke und sein Team tragen den Kosmos ihrer Künstlerinnen und Künstler erfolgreich in die Welt.

Foto zum 40. Geburtstag der Galerie: Judy Lybke und sein Team tragen den Kosmos ihrer Künstlerinnen und Künstler erfolgreich in die Welt.

(Foto: Galerie EIGEN + ART)

25 Menschen arbeiten heute für die Galerie. Judy Lybke hält große Stücke auf sein Team. Er hat einen guten Blick für Leute, meint Kerstin Wahala. "Judy ist ein unheimlich positiver Mensch und setzt nicht auf Zeitgeist. Er braucht das Zwiegespräch und den Austausch, dabei entwickelt er Ideen", beschreibt Wahala den Galeriegründer. So wie den Einfall, für ein paar Monate nach London, Tokio oder New York zu gehen. Nach Jahren des Eingesperrtseins wollten sie alle raus in die Welt. Kaum zu glauben: Die Mieten in den Traumstädten waren günstig. Jeder Kunstschaffende hat seine Arbeiten selbst nach New York gebracht. Es gab kein Geld für Transportkosten oder gar Versicherung. "Das ist diese Furchtlosigkeit von Judy. Wir hatten eine irre PR, über uns wurde sogar in den deutschen Abendnachrichten berichtet. Es war ein Erfolg, obwohl das gar nicht das Ziel gewesen war." Was wollten sie erreichen? Sie wollten etwas bewegen, der Kunst neue Fenster öffnen.

Den Grundstein dafür legte Judy Lybke in seiner Hinterhofwohnung am Körnerplatz in Leipzig. Er gründet im April 1983 Eigen + Art. Alle vier Wochen traf man sich zu Kunstaktionen, Performances und Gesprächen. Dabei soll Lybke die Tür auch mal nackt, mal mit drei Eiern auf dem Kopf, aufgemacht haben - Performance eben. Sehr oft aber war er im dreiteiligen braunen Nadelstreifenanzug unterwegs. Den hatte er von seinem Vater, einem Zimmermann, geliehen. Das verschaffte ihm gegenüber dem Staatssicherheitsdienst ein bisschen Respekt, die hatten ihn ständig im Visier. Die Mitarbeiter gingen bei ihm in der Wohnung ein und aus. Es gibt 18 Stasi-Akten über Judy Lybke inklusive Geruchsproben-Tüchern. Die Eigenart mit dem Dreiteiler ist bis heute geblieben und so was wie sein Markenzeichen. Seine älteste Tochter hat sich sogar schon mal einen für eine besondere Gelegenheit ausgeliehen. "Da bin ich stolz wie Bolle gewesen. Meine Anzüge sind wie eine Wohnung für mich", sagt er.

Kunstkauf ohne Zinsen

Momente des kritischen Hinterfragens gibt es immer wieder. So wie 1997 nach einer erfolgreichen Art Cologne. "Auf der Heimfahrt nach Berlin sprachen wir darüber, dass eine zu homogene Sammlerschaft nie lange gut geht. Judy hatte Sorge, dass das Kaufinteresse nachlässt", erinnert sich Kerstin Wahala. Eigen + Art brauchte ein frisches Label, so wie die "Neue Leipziger Schule". Der Chef hatte den Einfall mit den Jungsammlerinnen und -sammlern. So tituliert bekamen junge Käuferinnen und Käufer Rabatte eingeräumt und sogar die Möglichkeit, den Kunstkauf ohne Zinsen abzustottern. "Heute haben wir Sammlerinnen und Sammler, die als solche angefangen haben."

Starkes Trio seit 32 Jahren: Kerstin Wahala, Judy Lybke und Elke Hannemann (v.l.).

Starkes Trio seit 32 Jahren: Kerstin Wahala, Judy Lybke und Elke Hannemann (v.l.).

Kreative Erleuchtungen müssen auch mal gebremst werden. Das ist die Aufgabe von Co-Chefin Kerstin Wahala. "Wir pflegen eine gute Streitkultur. Das geht in Wellenbewegungen, mal ist man toleranter, mal weniger." Das Duo kennt sich gut und lange. Judy Lybke hat Kerstin Wahala vor 32 Jahren eingestellt, "weil sie genauso viel gearbeitet hat wie ich. Das Gleiche gilt für Elke Hannemann, die die Galerie in Leipzig leitet." Der Chef arbeitet seit über drei Jahrzehnten mit zwei zusätzlichen Chefinnen.

Zurück in die Auguststraße in Berlin. Es war die erste Galerie in der Straße, in der es vor 31 Jahren nicht mal Straßenbeleuchtung gab. Inzwischen gibt es die und viele andere Kunstorte. Was macht für die beiden Eigen + Art aus? "Begeisterung, Kraft, Zugewandtheit", findet Kerstin Wahala. "Die Künstlerinnen und Künstler, die wir vertreten, und das Team, das die Galerie nach außen trägt", ergänzt Judy Lybke. Dafür wird nicht nur in Leipzig und Berlin konstant gewerkelt. Sie wollen den Künstlerinnen und Künstlern den Freiraum schaffen, den sie brauchen, um ihre Kreativität auszuleben. Schließlich sind sie das Herz der Galerie. Lybke, Wahala, Hannemann und alle anderen sind viel auf internationalen Messen und an immer neuen Orten unterwegs, um sie zu promoten. Entspannung findet Judy Lybke auf Hiddensee, bei seiner Familie und "ich freue mich total, wenn ich in die Galerie komme. Ich liebe, was ich mache."

Mehr Information zu den Standorten und aktuellen Ausstellungen von Titus Schade in Leipzig sowie Olaf Nicolai in Berlin: Galerie Eigen + Art

Quelle: ntv.de

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