"Für dich immer noch Sie" Rettet die Höflichkeitsform!
22.06.2018, 18:02 Uhr
Gerade in Unternehmen mit flachen Hierarchien gehört das "Chef-Du" zum Alltag.
(Foto: imago/BE&W)
Die Zeiten, in denen wir uns das "Du" hart erkämpfen mussten, sind vorbei. Heute duzt jeder jeden. Der Angestellte den Chef, der Hipster den Bankberater - und Ikea uns alle. Das Siezen stirbt langsam aus. Doch es gibt gute Gründe, es zu bewahren.
Sie oder Du? Du oder Sie? Monatelang hatte er sich am Frühstückstisch um eine direkte Ansprache herumgewunden. "Herr … äh … kann ich mal … die Butter?" Jeder Satz konnte zur potenziellen Fallgrube werden. Jedes verunfallte Du zur Respektlosigkeit, für die der Senior kaum hörbar einen Tadel in seinen akkurat gestutzten Schnauzbart murmeln würde. Und nun das! Ein Vier-Augen-Gespräch bei einem Gläschen Cognac. Das konnte nur ein Test sein. Während er einschenkt, verweist er demonstrativ auf die honiggelbe Farbe, erwartet ein wohl anerkennendes Nicken angesichts der Tatsache, dass er seinen besten Tropfen mit dem neuen Freund seiner Tochter teilt. Der nickt anerkennend. Und als die Spirituose schließlich mit einem Kratzen die Speiseröhre hinunterrinnt, erlöst er ihn: "Wollen wir uns nicht duzen?"
Es gab einmal Zeiten, da mussten sich die Jungen das Du der Alten schwer erkämpfen - und als besonders verzwickt galt das "Schwiegervater-Du". Solange der neue Partner nicht geduzt wurde, galt er lediglich als netter Versuch, über den der Vater irgendwann so etwas sagte wie: "Wie hieß dieser eine mit dem albernen Fusselbart damals noch? Bernd? Bodo?" Es erforderte mehrere Wochenenden auf dem Land, endlose Gespräche über Aktienpakete - und mindestens einen zu festen Händedruck beim Abschied, um sich das "Schwiegervater-Du" zu verdienen. Und das war gut so. "Im Deutschen sind wir es gewohnt, mit Hilfe der Worte Du und Sie den Grad an Erwärmung zu justieren, den wir in der jeweiligen Beziehung für wünschenswert halten", erklärt Moritz Freiherr Knigge. Doch die Zeiten ändern sich.
Vielerorts wird einem das vertrauliche Du heute praktisch hinterhergeworfen - ob im hippen Start-up oder der Filiale eines bekannten Kaffeerösters. Alle wollen jung bleiben. Und sie glauben, dass das Duzen dabei hilft. Schuld daran ist nicht zuletzt die Werbung. Gerade junge Marken setzen in ihren Kampagnen auf die persönliche Ansprache. Ikea tut es. Coca-Cola tut es. Facebook tut es. "Guten Morgen, Judith", heißt es direkt nach dem Login. "Heute wird es nass. Pack' lieber den Regenschirm ein." Danke für die Information, aber für dich immer noch Sie! Sicher, es gibt sympathische Ausnahmen: Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) etwa beteuerten lange sehr glaubhaft, dass sie mich lieben. Doch nach einem sehr unglücklichen Tag auf einem verlassenen Bahnsteig im Februar mag ich es nicht mehr so recht glauben.
"Du, sorry, aber wir entlassen dich"
Was einem einfach zufällt, weiß man nicht zu schätzen. Dieser Grundsatz gilt nicht nur in der Liebe, sondern auch in der zwischenmenschlichen Ansprache. Geht es um Hierarchien, macht das inflationäre Du sogar reichlich Probleme. Das "Genossen-Du" ist unter Sozialdemokraten zwar ins Blut übergegangen, doch nach den vergangenen Monaten mag so manchem SPD-ler dämmern, wie schwer es ist, jemandem das Du wieder aufzukündigen - vor allem dann, wenn es bitter Not tut, emotionale Distanz zu schaffen. "Wie vielen Enttäuschungen wollte ich gern entgegenschleudern: Du, sagen Sie wieder Sie zu mir!", schreibt Autor Karl Fluch im Wiener "Standard". Sicher, nicht jedes unüberlegte Du schafft automatisch Vertraulichkeit. Doch das Unbehagen beim Duzen steigt proportional zum Grad der Antipathie. So ist das einfach.
Gerade im beruflichen Umfeld hat das Siezen deshalb viele Vorteile - auch bei vermeintlich flachen Hierarchien. Denn es gibt genügend Situationen, in denen Distanz in der Ansprache die Dinge vereinfachen kann. Man denke etwa an Gehaltsverhandlungen. Umgekehrt dürfte sich auch der Chef mit Sätzen wie "Du, sorry, aber wir entlassen dich" kaum wohlfühlen. Es empfiehlt sich also die Merkel-Methode. Wie es heißt, ließ sich die Kanzlerin in der letzten Legislaturperiode nur von 5 ihrer 14 Minister duzen - alle kamen aus der eigenen Partei. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble besteht angeblich sogar zu 100 Prozent aufs Sie. Und so wird es wohl auch bleiben. Denn laut Knigge gilt nach wie vor die Konvention: Das Du bietet immer die ranghöhere oder ältere Person an. So viel zum Bundestag.
Wer siezt, ist besser in der Schule
In modernen jungen Firmen jedoch hat sich das inflationäre Du längst festgesetzt. Vereinzelt ist deshalb nun eine paradoxe Sitte zu beobachten. Um eine besondere Nähe zu den liebsten Kollegen zu schaffen, kehren einige Duzer zum Sie zurück - und verleihen ihrer Sympathie ausgerechnet auf diese Weise Ausdruck. "Na, Frau Müller, wie sieht's bei Ihnen aus?", heißt es dann augenzwinkernd. "Heute ist Schnitzeltag in der Kantine!" Manch einen Achtundsechziger dürfte bei einem solchen Dialog die pure Verzweiflung erfassen. Doch der Wunsch nach Abgrenzung ist nicht totzukriegen. Laut Knigge hilft in dieser Situation womöglich nur eines - das Wir. In einer aufgeklärten Gesellschaft sei es an uns, "Höflichkeit und feine Sitte immer wieder aufs Neue zu definieren", meint der Freiherr. Und das fängt schon in der Schule an.
Und jetzt kommt's: Wissenschaftler an der Universität Siegen wollen herausgefunden haben, dass siezende Kinder besser in der Schule sind. Bundesweit untersuchten sie an 600 Schulen, ob Grundschüler ihre Lehrer duzen oder siezen und wie sich das auf ihre Leistungen auswirkt. Ihr überraschendes Fazit: Das Duzen oder Siezen stehe in engem Zusammenhang mit dem späteren Bildungserfolg. Studienleiter und Germanist Wolfgang Steinig rät sogar dazu, dass Kinder aus bildungsfernen Familien frühzeitig das Siezen lernen sollten - dann hätten sie später bessere Chancen. Womöglich hat auch das mit der Akzeptanz von Autoritäten zu tun. Ganz nach dem Motto: "Mit Verlaub, Frau Oberstudienrätin, Sie sind eine blöde Pute!"
Quelle: ntv.de