
Michael Linden hat die Posttraumatische Verbitterungsstörung beschrieben.
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In jedem Leben gibt es einschneidende Ereignisse: Scheidung, eine überraschende Kündigung oder Todesfälle. Die meisten Menschen können damit umgehen, doch einige verwinden es nicht und verbittern so sehr, dass ihnen nur noch schwer zu helfen ist.
Der Ex-Mann brennt mit der Sekretärin durch. Der Chef befördert den erwiesenermaßen faulen Kollegen. Die weit entfernte Cousine erbt alles, obwohl man selbst die Tante gepflegt hat. Die Möglichkeiten, dass einem das Leben übel mitspielt, sind unendlich. Und genauso vielfältig sind die menschlichen Reaktionen darauf.
Die meisten Menschen ärgern sich kräftig und schlagen dann das nächste Kapitel auf. Es gibt aber auch die anderen: Die ihr erfahrenes Unrecht bei jeder Gelegenheit erneut aufwärmen und daran leiden, als wäre es gerade erst passiert. Manchmal entwickeln sie Schlafstörungen, Ängste oder Verhaltensauffälligkeiten. Unentwegt kreisen sie um jenes einschneidende Lebensereignis. Der Psychiater und Psychotherapeut Michael Linden von der Berliner Charité hat Anfang der 2000er-Jahre das Krankheitsbild der Posttraumatischen Verbitterungsstörung beschrieben, das in ähnlicher Form auch schon von Kraepelin, dem Urvater der Diagnostik psychischer Störungen, diskutiert wurde.
Die Erfahrung von Linden war, dass Patienten mit ausgeprägter Verbitterung sehr schwer zu behandeln sind. "Uns wurde deutlich, dass wir gar nicht wissen, was wir mit denen machen sollen", erzählt er n-tv.de Verbitterung ist zunächst einmal ein völlig normales Gefühl, das die meisten Menschen irgendwann im Leben haben, das sie dann aber eben auch wieder loslassen können. "Aber es gibt auch Verbitterung, die von der Intensität her so stark ist, dass sie eine neue pathologische Qualität bekommt", sagt Linden über die krankhafte Form dieses Gefühls. Diese Patientinnen und Patienten sind aus seiner Sicht schwer krank. Häufig sind sie schon lange arbeitsunfähig, haben bereits ein Dutzend Diagnosen bekommen oder einen erheblichen Medikamentenkonsum. "Trotzdem geht es ihnen schlechter als vorher", stellt Linden dann oft fest. Die Betroffenen sehen sich als Opfer und wollen sich auch nicht wirklich helfen lassen.
Wie bei Kain und Abel
Anfällig sind Menschen mit ausgeprägten Wertvorstellungen, die sich also als Person sehr stark über ihre Karriere oder ihre Familie definieren. Wenn sich dann Leistung gar nicht wirklich lohnt und Liebe nicht ewig währt, fühlen sie sich vom Schicksal oder vom Leben verraten.
Ein zweiter Baustein ist die menschliche Erinnerung, die Ereignisse besonders lange abspeichert, die sehr überraschend kommen, gravierende Folgen haben und mit starker emotionaler Erregung einhergehen. Das trifft beispielsweise auf den Mauerfall oder die Terroranschläge vom 11. September zu, aber eben auch auf den Tag, als einem nach Jahren aufopferungsvoller Arbeit die Kündigung ins Haus flatterte. Diese negativen Ausnahmeerlebnisse brennen sich dann geradezu ins emotionale Gedächtnis ein.
Für Linden ist die Geschichte von Kain und Abel aus der Bibel ein klassisches Beispiel für eine Verbitterungsstörung. Beide Brüder haben Gott ein Geschenk gemacht, aber Gott hat nur das von Abel angenommen. Das hat Kain so sehr gekränkt, dass er seinen Bruder tötete. Daran sieht man, dass Verbitterung zu blindwütigen Reaktionen führen kann. Und noch etwas könne man an diesem Beispiel gut sehen, meint Linden. Aus Gottes Sicht stellt sich die Situation ganz anders dar. "Ihm kann ja keiner vorschreiben, welches Geschenk er wählen muss. Er hat einfach nur eine ihm zustehende Entscheidung getroffen."
Genau das versuchen Familie und Freunde auch Verbitterten zu sagen: Niemand habe eben ein Anrecht darauf, dass sein Leben störungs- oder kränkungsfrei verläuft. Der Verbitterte kann damit in seinem konkreten Fall nur leider nichts anfangen. Linden weiß auch, warum: "Der Glaube an eine gerechte Welt ist angeboren. Wenn wir Ungerechtigkeit erleben, reagieren wir alle kämpferisch. Was wir jedoch für gerecht halten, das ist sozial erlernt." Diese Rechtsnormen sind psychologisch gesprochen sogenannte Grundannahmen, die Menschen nicht mehr infrage stellen. "Wir halten unsere eigene Weltsicht immer für unbedingt richtig und nicht hinterfragbar." Deshalb ist das erfahrene Unrecht so unverzeihlich und unvergesslich.
Die Weisheit zu unterscheiden
Inzwischen haben Linden und Mitarbeiter für diese Patienten einen ganzen Werkzeugkasten entwickelt, wozu die "Weisheitstherapie" gehört. Dabei wird der Versuch unternommen, eine andere Sicht auf das Ereignis zu entwickeln. Psychologen nennen das "Reframing". Allerdings kann man die dafür erforderlichen Fähigkeiten nicht mit dem unmittelbaren Blick auf das Problem des Patienten trainieren. "Das funktioniert nicht", sagt Linden.
Stattdessen versuchen die Patienten, an fremden Problemen beide Seiten der Medaille zu sehen und probieren so den Perspektivwechsel. Sie üben sich in Gelassenheit und lösen sich ein wenig vom eigenen Absolutheitsanspruch. Sie geben der Zeit die Chance, die Wunden zu heilen und nehmen die Dinge vielleicht sogar mit Humor.
Wenn es gut läuft, können die Patienten diese Fähigkeiten schließlich auf ihr eigenes Dilemma anwenden und die Verbitterung loslassen. Beispielsweise die Weisheitsdimension, die Linden "Selbstdistanz" nennt. "Übersetzt könnte man sagen: Man darf sich selbst nicht so wichtig nehmen." Der Psychologe hat dafür auch gleich ein Beispiel parat: "Wenn ein großer Konzern ein Werk schließt, dann ist es wichtig, dass der gekündigte Mitarbeiter versteht, dass in der Konzernzentrale irrelevant ist, ob er noch ein Häuschen abzahlt und dass er auch keinen Anspruch darauf hat, dass sein Betrieb niemals restrukturiert wird."
Am Ende könnte die Erkenntnis stehen, dass es immer einen Teil des Lebens gibt, den jeder selbst beeinflussen kann. Linden fällt dazu ein Weisheitsklassiker ein: "Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."
Quelle: ntv.de