Kieler "Tatort" - ganz unten Die wilden Kerle auf Hartz IV
29.03.2015, 21:43 Uhr
Eine Jugend in Gaarden - kein Zuckerschlecken.
(Foto: dpa)
Saufen, Pornos, Party machen - bis der arbeitslose Onno Steinhaus tot in seiner verwahrlosten Wohnung liegt. Bei der Suche nach dem Mörder trifft Borowski auf unangenehme Gegner: die "Kinder von Gaarden".
Déja-vu, wieder einmal, am Sonntagabend. Erst am letzten Wochenende ging es im "Tatort" um Problemkinder. Das Berliner Duo Rubin und Karow (Marc Waschke und Meret Becker) durchlebte in seinem ersten Fall eine etwas überfrachtete, modernisierte Variante der Kinder vom Bahnhof Zoo. Auch Borowski bekam es diesmal mit einer Bande Schwererziehbarer, den "Kindern von Gaarden", zu tun. Nun mögen die Dinge im latent verschlafenen Kiel etwas bedächtiger ihren Gang gehen als in der Haupstadt, die Probleme jedoch sind dieselben: Drogen, Jugendarbeitslosigkeit, Armut, Hartz IV gewinnt.
"Lass' dich nicht mit den Jungs in Gaarden ein", hieß es schon in den 70er-Jahren. Im "Junior-Kino" der Kurbel liefen die japanischen Monsterfilme rauf und runter, im Werftpark gab es im Winter eine Todesbahn, im Jugendheim nur eine brüchige Tischtennisplatte. Zum Frühschoppen ging man sonntags mit Vaddern ins "Wiking Eck", hinterher zu Sobottka zum Kuchenholen. Fünf Sahnestücke bitte. Und eine Rumkugel.
Von der rauhen Romantik ist anno 2015 nichts mehr übrig. Hier ist kein Stein mehr auf dem anderen. Die großen Arbeitgeber wie Werften und Fischereien sind in der Krise, Jobs brechen weg, allein in Gaarden leben 58,4 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in einkommensarmen Familien.
Spinne auf Bulle
Spinnennetze zieren hier mittlerweile auch Polizisten-Oberarme, dafür gibt es jetzt Punkbands, die sich "Die Bullen" nennen. Worauf soll man sich da verlassen? Tapeten gibt es nur noch in den Farbtönen verranzt, verwarzt oder vergilbt, Lebensschmalz in allen Poren. Da kümmert es kaum jemanden, wenn ein verwarzter Kindergrapscher wie Onno Steinhaus einiges Tages erschlagen in seiner Messie-Bude liegt.
Selbst für jemanden mit einer derart langen Leitung wie Borowski (Axel Milberg) wird schnell klar, dass der Täter aus dem Kreis jener wilden Kerle rund um den 60-jährigen Steinhaus stammen muss, die sich bei ihm immer zum Saufen und Pornos glotzen trafen.
Seinen Ton trifft der 25. Fall mit Milbergs kauzigem Ermittler durchaus stimmig, konzentriert er sich doch größtenteils auf das Einfangen des Elends: die Kinder mit den schmutzigen Gesichtern und den billigen Basecaps, die kitschigen Kaffeeservices, die wuchtigen Matronen mit ihrem Winkfleisch und jene ziellosen Flanierer, die wie in einer Folge von "Walking Dead" durch die verkehrsberuhigten Zonen stapfen. Passend zur hoffnungslosen Lage in diesem "Brennpunktbezirk" nimmt Regisseur Florian Gärtner hier alles an Fahrt raus, was geht.
Auch sein Straßenkinder-Ensemble liefert überzeugend ab. Amar Saaifan spielt den kleinen Leon, am Ende Opfer und Täter zugleich, beinah schmerzhaft bedrückend, Bruno Alexander verleiht seinem Timo Scholz genau die richtige Portion rüpelhaften Rotz. Und die Bande vom Fußballplatz, wie sie pöbeln und fluchen und Borowski mit links auflaufen lassen, sich dabei in den Schritt packen und die Oberlippe hochziehen - auf dem Gang zum Kippenautomat möchte man ihnen nicht begegnen.
Wodka mit Frau Kommissarin
Irgendwann jedoch, so scheint's, erinnert man sich hier daran, dass es ja auch noch einen Fall zu lösen gibt. Und so wird im Schlussviertel so manches etwas hanebüchen über den Haufen geworfen. Da schließt sich der hilflose Kommissar mit den Rotzlöffeln im Bolzkäfig ein, muss Sarah Brandt (Sibel Kekili) in ein absurdes Wodka/Poker-Duell mit dem verdächtigen Revierbullen Rausch (Tom Wlaschiha). Dass sie ein halbes Dutzend Kurze braucht, um die doch so sorgfältig im Regal platzierte Keksdose mit dem Beweismaterial zu entdecken - sei es drum.
Dafür ist Borowskis Aufklärungsmonolog und die Bilder des erneut bedrängten Leon, der wieder aus Notwehr zu einem Werkzeug greift, klasse montiert. An einer Stelle zeigt der chronisch Unrasierte sogar fast ein wenig Humor. "Sie sind ein blödes Arschloch!" pöbelt der Dreikäsehoch den Kommissar an. "Das ist mir bekannt", entgegnet der. Sollte Borowski auf die alten Tage tatsächlich noch einmal so etwas wie Schlagfertigkeit entwickeln? Ich höre!
Quelle: ntv.de