Unterhaltung

Martin Scorsese wird 75 Jäger der verlorenen Mythen

Martin Scorsese 1993 bei den Dreharbeiten zu "Zeit der Unschuld".

Martin Scorsese 1993 bei den Dreharbeiten zu "Zeit der Unschuld".

(Foto: imago stock&people)

Aus Gewalt, Mafia und Zeitkolorit hat Martin Scorsese viele Meisterwerke gestrickt. Das wird auch so sein, wenn er für "The Irishman" Robert De Niro und Al Pacino aufeinander loslässt. Dabei verdienen auch seine kleinen Filme Aufmerksamkeit.

Er kann nicht lassen von den Mythen Amerikas. Wenn Martin Scorsese 2019 mit "The Irishman" seinen nächsten Film herausbringt, wird er sich erneut mit einer jener Geschichten befassen, die die USA seit Jahrzehnten in Atem halten: der Tod des legendären Gewerkschaftsbosses Jimmy Hoffa.

1975 verschwand Hoffa, der enge Beziehungen zur Mafia unterhielt, vom Parkplatz eines Restaurants. Eine Leiche wurde nie gefunden, der Fall nie geklärt, er beschäftigt bis heute Hobbydetektive und Verschwörungstheoretiker. Einer jedoch gestand kurz vor seinem Tod, Hoffa ermordet zu haben: Frank "The Irishman" Sheeran. Der war nicht nur Mitglied von Hoffas Gewerkschaft der Transportarbeiter, sondern galt auch als Mafiakiller. Mehrere Dutzend Morde sollen auf sein Konto gehen.

Alles deutet darauf hin, dass "The Irishman" ein typischer Scorsese-Film wird. Zumal der Regisseur alte Bekannte mit an Bord geholt hat: Robert De Niro spielt die Titelrolle, Al Pacino ist Hoffa, hinzu kommen Joe Pesci und Harvey Keitel. Was soll da noch schiefgehen? Das könnte man auch schon über das danach geplante Projekt über Theodore Roosevelt sagen, mit Leonardo DiCaprio in der Titelrolle. Das ist es doch, was man von Scorsese erwartet. Einige seiner bekanntesten Filme hat er mit ganz ähnlichen Zutaten gedreht: eine Melange aus Gewalt, Kriminalität und einem Stückchen US-Geschichte. In den Hauptrollen: getriebene Männer.

Wie ein roter Faden zieht sich dieses Konzept durch Filme wie "Taxi Driver" und "Wie ein wilder Stier", "Good Fellas" und "Casino", "Gangs of New York" und "The Departed", jenem Film, für den Scorsese schließlich seinen Regie-Oscar erhielt. Diese Filme haben Scorsese berühmt gemacht, zu einem Vorreiter des New Hollywood und zu einem der wichtigsten Regisseur seiner Generation. Glattpoliert war das freilich selten. Scorsese ging es mehr um die Schattenseiten US-amerikanischer Mythen. Die Mafia? Ein Haufen dilletantischer, schlecht gekleideter Kleinkrimineller. New York? Auf Gewalt gegründet, wie eigentlich das gesamte Land. Der legendäre Howard Hughes? Ein von Neurosen zerfressenes Wrack. Die Wall Street der 80er? Ekstase und Verschwendung.

Religion und Erlösung

Scorsese entzaubert, wo es geht. Nicht nur in seinen bekannten Filmen, sondern auch in seinen kleinen Streifen. Das waren und sind nicht selten Herzensprojekte, denen er sich nur widmen konnte, wenn seine Mafia-Filme genug Geld einspielten. Auch diese Filme handeln von Gewalt und Kriminalität, auch hier setzt Scorsese auf historisch exakte Umgebungen. Und doch gestatten diese Filme einen tieferen Blick auf das Seelenleben und die Interessen Scorseses.

Erlösung: In "Bringing out the Dead" findet sie Nicolas Cage in den Armen von Patricia Arquette.

Erlösung: In "Bringing out the Dead" findet sie Nicolas Cage in den Armen von Patricia Arquette.

(Foto: imago/United Archives)

Seine katholische, moralisch strenge Herkunft hat der Regisseur, der ursprünglich Priester werden wollte, etwa immer wieder aufgegriffen. Schon Scorseses erster Langfilm "Wer klopft denn da an meine Tür?" handelt von einem religiösen Mann, der eine Frau zurückweist, weil sie einst vergewaltigt wurde, er sie als unrein empfindet. In "Hexenkessel" vertieft er dieses Thema - wieder mit Harvey Keitel als Italoamerikaner, dem sein Glaube an moralische Grenzen führt.

Mit "Die letzte Versuchung Christi", "Kundun" und zuletzt "Silence", seinem langjährigen Herzensprojekt, hat Scorsese drei Filme gedreht, die sich explizit mit Religion und Glauben auseinandersetzen. Doch nicht nur Jesus, der vom Kreuz steigt, der Dalai Lama oder die beiden Jesuitenpater in Japan suchen nach Erlösung - auch Taxifahrer Travis Bickle ist ein Getriebener, oder der Sanitäter Frank Pierce in "Bringing out the Dead". Dieser findet Ruhe in den Armen von Mary, der Film endet, symbolisch aufgeladen, mit der Darstellung einer erleuchteten Pietà.

"Bringing out the Dead" freilich ist auch das Porträt einer Stadt im Ausnahmezustand - bevor Giuliani für Ordnung sorgte. Scorseses Werk ist nicht denkbar ohne dieses New York. Er hat die Metropole erforscht und auseinandergenommen wie kaum ein anderer Regisseur. Er hat die Gosse gezeigt und die angeblich feine Gesellschaft. Er hat gezeigt, dass hier stets Gewalt und Verrat geherrscht haben. Er hat Blut durch die Straßen fließen lassen und Geld durch die Hände der enthemmten Wall Street.

In "New York, New York" mit Liza Minelli und Robert De Niro feiert Scorsese seine Heimatstadt - und seine Liebe zu Musik und Filmgeschichte.

In "New York, New York" mit Liza Minelli und Robert De Niro feiert Scorsese seine Heimatstadt - und seine Liebe zu Musik und Filmgeschichte.

(Foto: imago/United Archives)

Von den Historienstreifen "Gangs of New York" und "Zeit der Unschuld" über "Taxi Driver" bis zu "Wolf of Wall Street" hat Scorsese seine Stadt durchschritten. Seine Komödie "After Hours" zeigt eine Stadt, die nie schläft. Und "New York, New York" liefert nicht nur den Beat der Metropole kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Originalversion von Sinatras Hymne an die Stadt. Mit dem Film wollte Scorsese einen Kontrapunkt zu seinem düsteren Frühwerk setzen - eine Hommage an die Musicalklassiker von MGM. Dass der Film floppte, hat Scorsese hart getroffen. Schon zuvor hatte er versucht, dem wachsenden Druck mit Drogen und Affären zu entkommen, nun versank er in Depressionen. Es folgte eine tiefe Schaffenskrise.

Ein Film mit De Niro und DiCaprio

Dabei ist Musik eines der Lieblingsthemen Scorseses. Für ihn liefert sie nicht nur das Hintergrundrauschen des Films, sondern ist ein essenzieller Teil seiner Sprache. Oft setzt er lieber auf bekannte Songs als auf einen eigespielten Soundtrack. Denn er weiß: Nichts vermag die Stimmung einer Epoche so gut auszudrücken wie die Hits der Zeit. Wohl auch deshalb hat er mehrere Musikdokus und Konzertfilme vorgelegt, über The Band, Bob Dylan oder George Harrison. Auch beim Video zu Michael Jacksons "Bad" stand er hinter der Kamera - ein veritabler Kurzfilm, der natürlich in New York spielt (und mit einem jungen Wesley Snipes besetzt ist).

Scorsese hatte nie Probleme damit, verschiedene Formate auszuprobieren. Neben seinen ersten Kinofilmen drehte er Kurzfilme, zuletzt auch ein paar aufwendige Werbevideos - in "The Audition" lässt er seine beiden Langzeit-Darsteller De Niro und Leonardo DiCaprio aufeinandertreffen. Bis heute legt er regelmäßig Dokus vor und zuletzt agierte er auch noch als Produzent von Fernsehserien.

Auch auf technischem Gebiet war er stets neugierig, brachte 2011 den 3D-Film "Hugo" heraus. Scorsese ist ein handwerklicher Meister, der stets nach neuen Ausdrucksformen sucht - deshalb drehte er auch mehrfach mit dem kongenialen deutschen Kameramann Michael Ballhaus. Sein technisches Wissen nutzt er aber auch zu Restauration und Erhalt des weltweiten Filmerbes. Er ist ein Archäologe, der sein ungeheures Wissen über die Filmgeschichte demnächst in Online-Seminaren weitergeben will.

Ruhe findet der Rentner also nicht. Das würde auch nicht passen zu diesem nervösen Schnellsprecher, der mittlerweile auf Instagram Einblicke in sein Privatleben gewährt. So geht Scorsese auch mit "The Irishman" noch einmal neue Wege. Nachdem Paramount das Projekt fallengelassen hatte, griff Netflix zu. Mehr als 100 Millionen Dollar soll der Streaming-Dienst hingelegt haben. Unklar ist allerdings, wie der Film nun vertrieben wird. Läuft er erst eine Weile im Kino, bevor er über das Portal ins Fernsehen kommt? Oder startet er auf beiden Medien gleichzeitig? Undenkbar, dass ein Kinogenie wie Scorsese auf die große Leinwand verzichtet. Nirgends lassen sich die amerikanischen Mythen besser zerlegen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen