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Mehr Kuscheldeckenliteratur Haruki Murakami verirrt sich in seinen Welten

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Stilvoll ist Haruki Murakami ja, das muss man ihm lassen.

Stilvoll ist Haruki Murakami ja, das muss man ihm lassen.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Haruki Murakamis Werke erscheinen in Dutzenden Sprachen, sie laden zum Entspannen ein, zum Nachsinnen. Nach sechs Jahren gibt es einen neuen Murakami. Kann "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" an seine mitunter genialen Vorgänger anknüpfen?

Bei Haruki Murakami ist es nicht leicht, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. War es nie. Stets konfrontiert er Durchschnittstypen mit einer wenig durchschnittlichen Welt. Eine, die plötzlich auf alle bestehenden Naturgesetze pfeift, neue formuliert und sich damit von einem Verständnis von dem, was wir als normal empfinden, entfernt. Murakami erzählt von Parallelwelten, von Namen stehlenden Affen, von sprechenden Metaphern. Auch in seinem 15. Roman "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer", der frisch zu seinem 75. Geburtstag erschien, finden sich wieder viele fantastische Ideen – und leider auch altbekannte Schwächen.

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Es beginnt als Liebesgeschichte. Ein 17-jähriger Gymnasiast verliebt sich in eine 16-jährige Schulkameradin. Sie werden ein Paar, tauschen verstohlene Küsse aus, hauchen sich Liebesschwüre zu, leben abgekapselt von ihren Mitschülern in ihrer rosaroten Wolke. Nach nur wenigen Seiten wird diese weggeblasen. Das Mädchen verschwindet, der Protagonist, von Liebeskummer gebeutelt, schlafwandelt mehrere Jahrzehnte durch ein farbloses Leben.

Mit Mitte vierzig trifft er sie wieder, in einer ummauerten Stadt, in der es weder Schatten noch Zeit gibt. Warum er dort gelandet ist, weiß er nicht. Traum? Realität? Unwichtig. Er muss an einem stoischen Wächter vorbei, der ihm seinen Schatten nimmt und ihm eine Augen-OP via Dolch verpasst und nimmt einen Job in einer Bibliothek als Traumleser an. Seine alte Flamme, keinen Tag älter als 16 Jahre, wird zu seiner Assistentin. Seine Jugendliebe erkennt ihn nicht, große Gespräche führen sie nicht. Trostlose Menschen in einer idyllischen Welt.

Bisschen was fürs Ego

Murakami-Fans dürften sich an die Stadt erinnern. Bereits in den Achtzigern schrieb er eine Erzählung in dem Setting, mit der er aber nicht zufrieden war. Jahre später griff er sie in seinem Roman "Hard-boiled Wonderland" auf. Viele Passagen erscheinen in "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" entsprechend recycelt. Es erschließt sich nicht, was Murakami an diesen Ort so faszinierend findet. Im Grunde ist er ein Sammelsurium aus Versatzstücken der Psychoanalyse. Wer die Modelle großer Denker, etwa Lacan und Freud, aufspürt, stimuliert seine Ego-Schwellkörper. "Wo ist Walter?" für Poser.

Sobald der Protagonist dutzende Seiten später wieder in seiner Welt landet, schmeißt er seinen Job als Buchhändler hin und tritt einen Direktorenposten in einer Bücherei in einer Kleinstadt in der Provinz Fukushima an. Dort schließt er Freundschaft mit einem Geist (sein Amtsvorgänger), entwickelt Zuneigung für einen Jungen mit Savant-Syndrom (wortkarg, aber interessant), verliebt sich sogar ein wenig in eine Coffeeshop-Besitzerin (weniger wortkarg, weniger interessant). Die alles umwabernde Melancholie, die mitunter schrulligen Figuren, die in ihrer Tristesse doch schönen Kulissen, alles fühlt sich nach Baukasten an. Zwar handelt es sich dabei um Murakamis persönlichen, doch seit seinen letzten vier, fünf Büchern ist dieser nicht mehr gewachsen.

Mal mehr, mal weniger nett

Trotzdem: "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" ist kein schlechter Roman. Er verzaubert, stimmt nachdenklich, birgt in den Untiefen des Verstands längst vergessene Liebessehnsüchte und hievt sie an die Oberfläche des Bewusstseins, was zwar Schönsprech für "Abschweifen" ist, jedoch hier zum Lesevergnügen dazu gehört. Weniger schön sind hingegen die weiblichen Figuren, die mal wieder nur rein funktional sind. Eine dient als MacGuffin, eine andere als Sidekick und der Rest sind gelegentlich sprechende Anschauungsobjekte.

Ja, Murakami hat einen schönen Schreibstil, er ist Meister der Kuscheldeckenliteratur. Und ja, auch seine bisweilen magischen Welten sind herausragend, wenngleich stark inspiriert von südamerikanischen Kollegen. Schade ist, dass sich Murakami selbst ebenfalls als besonders herausragend sieht. Lange standen nur die Leser staunend vor seinen Büchern. Mittlerweile scheint es, als hätte er sich einfach dazugestellt – statt etwas wirklich Erfrischendes zu schreiben.

Quelle: ntv.de

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