Fiktive Notizen von Dora Maar "Lieber Gott, ich betrüge dich mit Picasso!"
23.04.2017, 14:01 UhrPicasso hatte ständig Frauen um sich herum. Ließ er eine Muse fallen, stand die nächste schon bereit. Die Fotografin Dora Maar hat das Jahrhundertgenie wie kaum eine andere inspiriert - und zahlte dafür einen hohen Preis.
Eine Frau liegt vollkommen entblößt und seltsam verrenkt auf einer Wiese. Über sie beugt sich ein mächtiges Wesen mit dem Körper eines Mannes und dem Kopf eines Stiers. Dessen eine Hand greift nach ihrer Brust, die andere drückt ihre Beine auseinander. Sie wehrt sich nicht, gibt sich ihm hin.
Diesen Liebesakt zwischen Passivität und Gewalt malte Pablo Picasso 1936, in dem Jahr also, als Dora Maar die berühmteste seiner zahlreichen Musen wurde. Das Bild trägt den Titel "Dora und der Minotaurus". So heißt auch der jüngste Roman von Slavenka Drakulić. Denn die Zeichnung, so die Autorin, sei das wohl treffendste Symbol der achtjährigen Beziehung zwischen Maar und Picasso, die sie in ihrem Buch beschreibt.
Drakulić wählt dafür einen cleveren Schachzug - der am Ende aber nicht aufgeht: Sie erfindet ein Notizbuch aus dem Nachlass von Dora Maar (1907-1997), das ihr auf verschlungenen Wegen zugespielt worden sei. Die fiktiven Aufzeichnungen siedelt sie 1958/59 an, über zehn Jahre nach der für Maar schmerzhaften Trennung.
Zu diesem Zeitpunkt hat Maar einen Nervenzusammenbruch hinter sich, ist mit Elektroschocks behandelt worden, führte lange Gespräche mit dem Psychoanalytiker Jacques Lacan – und hat sich schließlich in selbst gewählte Einsamkeit zurückgezogen. Nun lässt Drakulić sie in ihrer Pariser Wohnung sitzen, deren Wände mit Werken von Picasso gepflastert sind, und ihre Erinnerungen aufschreiben.
Das Jahrhundertgenie und die Exotin
"Eigentlich zog mich nichts an, was ich von ihm als Person gehört hatte. Aber er war – Picasso." Sein Ruhm treibt die Fotografin Maar in die Arme des 26 Jahre älteren Jahrhundertgenies. Sie will von ihm bewundert werden.
Die in Buenos Aires aufgewachsene Tochter eines Kroaten und einer Französin fühlt sich in Paris und im Kreis der Surrealisten als Exotin. Das wiederum fasziniert Picasso. Er verguckt sich in die "indianische Prinzessin" mit dem geheimnisvollen Blick, als die Man Ray Maar fotografiert hat.
Zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit inspiriert Maar den spanischen Maler bei der Arbeit an "Guernica", einem seiner bekanntesten Gemälde. Sie hofft verzweifelt, als Künstlerin eine andere Bedeutung für ihn zu erlangen als all die anderen Frauen vor und neben ihr. Aber sie wird enttäuscht.
Ihre Verehrung mündet in einer "verzweifelten, abhängigen" Liebe zu Picasso, für die sie einen hohen Preis zahlt: Sie gibt sich selbst und ihre beruflichen Ambitionen komplett auf. Sie legt die Kamera für immer aus der Hand, "weil Picasso mich dazu getrieben hatte".
Als Picasso sie schließlich für die jüngere Françoise Gilot verlässt, sucht Maar nach ihrem Zusammenbruch Zuflucht im Glauben. Doch sie kann nicht aufhören, ihn anzubeten: "Lieber Gott, ich betrüge dich noch immer mit Picasso!"
236-seitige Therapiesitzung
Maar, das erniedrigte Opfer, Picasso, das zerstörende Ungeheuer: Drakulić taucht ihren Roman in konsequentes Schwarz-Weiß. Es ist kein Geheimnis, dass Picasso ein Egozentriker war und einen fragwürdigen Umgang mit Frauen pflegte, sie ungeniert gegeneinander austauschte und ausspielte. Doch die Überzeichnung der Rollen nimmt dem Roman viel an möglicher Plastizität.
Richtig greifbar wird nicht, was Maar ihr Leben lang an Picasso fesselte. Die fiktiven Erinnerungen wirken wie ein Selbstfindungstrip oder eine 236-seitige Therapiesitzung, die immer wieder in denselben Fragen mündet: "Warum hatte ich nicht die Kraft, mich ihm zu widersetzen, als ich sah, dass er mich in einen Fußabstreifer verwandelte?", "Warum ließ ich mir das gefallen"?
Aber an vielen Stellen blitzt auch die Stärke der Autorin auf, sich der zutiefst verletzten Maar feinfühlig und einprägsam zu nähern. Vor allem dann, wenn sie Gemälde und Zeichnungen von Picasso beschreibt, in denen sich seine Beziehung zu Maar spiegelt – mal ist sie dort als liebreizendes Mädchen am Strand abgebildet, mal mit grotesk verzerrtem Körper.
Quelle: ntv.de