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Zwischen Verzweiflung und Selbstbehauptung Selbstmord im Dritten Reich

Der gemeinschaftliche Selbstmord eines Bürgermeisters, seiner Frau und seiner Tochter am 20. April 1945.

Der gemeinschaftliche Selbstmord eines Bürgermeisters, seiner Frau und seiner Tochter am 20. April 1945.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Arbeitslosigkeit und Entwurzelung, Geisteskrankheit und Liebeskummer, Verblendung und Widerstand - die Gründe, sich selbst zu töten, sind im Dritten Reich vielfältig. Unter der Herrschaft der Nazis steigen die Zahlen, nicht zuletzt deshalb, weil der Freitod vielen als letzte Möglichkeit bleibt, ihre Selbstbestimmung und Würde zu wahren.

Das Buch ist bei Suhrkamp erschienen und kostet 21,90 Euro.

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In den Augen der Nationalsozialisten war ein Selbstmord ein feiger Akt, der persönliche Schwäche offenbarte. Mehr noch, die Selbsttötung war völlig überflüssig, weil ja der "Aufbau einer Volksgemeinschaft" den Deutschen wieder ein "schönes" Leben bescherte. An den Selbstmordzahlen im Dritten Reich änderte das nichts. Mehr noch: In seinem Buch "Selbstmord im Dritten Reich" vertritt Christian Goeschel die These, dass Selbstmord seit der Weimarer Republik eine irritierend häufige Todesart war, und geht den verschiedenen Gründen nach.

Nach dem Ersten Weltkrieg begründeten viele Kriegsheimkehrer ihren Freitod mit der Schmach der Niederlage. So wurde die Selbsttötung zu einer heroischen Tat, ausgelöst vom Versailler Vertrag und der galoppierenden Inflation. Hinzu kamen auch noch die allgemeine Unsicherheit, das Gefühl politischer Unordnung und wachsende soziale und wirtschaftliche Not.

Die Lokalzeitungen jener Jahre waren voll mit Berichten über arbeitslose Familienväter, die sich unfähig fühlten, ihrer Rolle als Versorger gerecht zu werden. Die Suizide wurden schließlich zum Thema politischer Auseinandersetzung, in der die verschiedenen politischen Lager versuchten, den Lebensüberdruss in einen gesellschaftlichen Kontext stellen, um bestimmte Wahlentscheidungen zu provozieren.

Ausweg aus brutaler Verfolgung

Mit der Machtübernahme der Nazis traten die wirtschaftlichen Gründe zunächst in den Hintergrund. Allerdings konnten die Nazis ihre Propaganda aus den Jahren der Weimarer Republik, sie würden Hunger und Not besiegen, nicht endgültig einlösen. Es kamen neue Motive hinzu, sich selbst zu töten; die Zahlen sanken nicht.

Verschiedene Bevölkerungsgruppen gerieten in die Verfolgungsmaschinerie der Nationalsozialisten: Sozialdemokraten, Kommunisten, Kranke, Homosexuelle, Liberale, Kommunisten, Juden. Menschen töteten sich aus Angst vor dem Terror, manche taten es in Gefängnissen, SS-Verließen oder im KZ, Folter und die eigene Ermordung vor Augen. Goeschel sieht in diesen Selbstmorden Akte der Selbstbehauptung, die letzte Möglichkeit, sich der allumfassenden Macht eines autoritären Regimes zu entziehen.

Der Historiker Goeschel beschreibt regelrechte Selbstmord-Wellen unter jüdischen Bürgern, immer dann, wenn sich die Repressionen verstärkten oder schließlich, wenn Deportationen bevorstanden. "Wie es in uns deutschen Juden aussieht, - mögt ihr aus meinem Schritt ersehen!", schrieb beispielsweise der jüdische Geschäftsmann Fritz Rosenfelder in seinem Abschiedsbrief. Diese Selbstmorde waren den Nazis nur recht und wurden von ihnen zum Teil noch propagandistisch augeschlachtet.

Weltuntergangsstimmung

Als das "Dritte Reich" im Frühjahr 1945 zusammenbrach, konnten die Nazis auch ihr Selbstmordtabu nicht länger aufrechterhalten. Vielen führenden Nationalsozialisten war die Aussichtslosigkeit ihrer Lage wohl bewusst. Nicht nur Hitler, Goebbels und Himmler töteten sich selbst, als sich die Alliierten Berlin immer weiter annäherten. Auch andere hochrangige Nazis begingen Selbstmord - ob aus Sorge, zur Rechenschaft gezogen zu werden oder aus Unrechtsbewusstsein, bleibt allerdings offen.

Verzweifelte Soldaten suchen an der Front den Freitod, ohne dass das so genannt wurde. Viele Zivilisten fürchteten den Einzug der Russen und gingen freiwillig in den Tod.

Goeschel hat für seine zunächst auf Englisch erschienene und nun ins Deutsche übertragene Studie nicht nur Selbstmordstatistiken, Polizei- und Zeitungsberichte sowie NS-Dokumente ausgewertet. Er dokumentiert, wann immer er das Material zur Verfügung hat, auch Abschiedsbriefe und Tagebuchnotizen von Selbstmördern. Goeschel macht keinen Unterschied, ob ein einfacher Arbeiter und Angestellter, ein Beamter, Soldat, Jude oder Sozialist oder ein hoher Funktionsträger des NS-Regimes sein Leben selbst beendet. Schon in der Einleitung macht er deutlich, dass ein Freitod immer persönliche wie gesellschaftliche Anteile hat. Beide Seiten beleuchtet er und macht die Menschen hinter den oft fragwürdigen Statistiken sichtbar.

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Quelle: ntv.de

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