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Roman-Renaissance mit Rätsel "Sonnenfinsternis" entlarvt Stalins Lügen

In "Sonnenfinsternis" rechnet Arthur Koestler auf literarisch grandiose Weise mit dem Totalitarismus ab. Der Roman ist keine Fiktion, sondern beruht auf Erfahrungen des Autors. Ein Glück, dass endlich die Originalfassung erschienen ist.

Der frühere SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz besinnt sich dieser Tage auf alte Qualitäten. Im "Literarischen Quartett" des ZDF legte der gelernte Buchhändler Kritikern und Zuschauern den Titel "Sonnenfinsternis" von Arthur Koestler ans Herz.

Koestlers "Sonnenfinsternis" erschien erstmals 1940 auf Englisch. Das Originalmanuskript wurde 2015 entdeckt.

Koestlers "Sonnenfinsternis" erschien erstmals 1940 auf Englisch. Das Originalmanuskript wurde 2015 entdeckt.

(Foto: picture alliance / dpa)

Schulz sprach von einem Werk, "das berührt, auch 80 Jahre nach seinem Erscheinen". Die drei anderen Kritiker stimmten in seine Lobeshymne ein. Seither erfährt Koestler - 35 Jahre nach seinem Tod - hierzulande eine unverhoffte Renaissance. Und Thomas Pago, Chef des kleinen Elsinor-Verlags, erlebt, wovon unabhängige Verleger träumen: einen Volltreffer zu landen. Die erste Auflage war sofort vergriffen. Pago, der jährlich gerade einmal sechs bis zehn Bücher herausbringt, ließ ein paar Tausend Exemplare nachdrucken.

Doch was heißt hier "erste Auflage"? "Sonnenfinsternis" gehört zu den am meisten verbreiteten und wirkungsvollsten politischen Romanen des 20. Jahrhunderts. Koestlers literarische Abrechnung mit dem Stalinismus war 1940 auf Englisch unter "Darkness At Noon" erschienen. 1946 kam die deutsche Ausgabe auf den Markt, bei der es sich um eine von Koestler selbst bewerkstelligte Rückübersetzung handelte. Das Originalmanuskript galt als in den Kriegswirren verschollen. Seine Wiederentdeckung ist dem Kasseler Germanisten Matthias Weßel zu verdanken, der bei Forschungen für seine Doktorarbeit 2015 in der Zentralbibliothek Zürich darauf stieß.

Teil eines Mythos

Die Geschichte von "Sonnenfinsternis" gehört zum Mythos, der Koestler umgibt. Der Schriftsteller, 1905 in Budapest als Sohn eines jüdischen Industriellen geboren, floh mit seinen Eltern nach Wien, nachdem es 1919 während der rumänischen Besatzung seiner Heimatstadt zu Pogromen gegen Juden und Kommunisten gekommen war. 1930 zog er nach Berlin, arbeitete als Journalist und schloss sich - wie so viele andere Intellektuelle angetan von der kommunistischen Idee - ein Jahr später der KPD an. Unter dem Eindruck der Schauprozesse und "Säuberungen" auf Befehl Stalins trat Koestler 1938 wieder aus und brach konsequent mit dem Kommunismus.

Todesangst kennt Koestler aus eigener Erfahrung.

Todesangst kennt Koestler aus eigener Erfahrung.

(Foto: picture alliance / dpa)

Koestler, der fließend Deutsch, Ungarisch, Englisch und Französisch sprach, ging als Kriegsreporter in den Spanischen Bürgerkrieg, geriet in Gefangenschaft der Truppen Francos, wurde zum Tode verurteilt und schließlich - während gleichzeitig Tausende hingerichtet wurden - von Großbritannien im Zuge eines Gefangenenaustausches befreit. Vor den Nazis floh Koestler nach Frankreich, wo er als Kommunist in ein Internierungslager gesteckt wurde und mit Glück freikam. Über Portugal gelangte er 1940 nach England. Auch dort wurde Koestler inhaftiert: als illegaler Einwanderer. Trotzdem wurde Großbritannien seine neue Heimat - er starb 1983 in London.

Flucht und Todesangst prägten Koestlers frühe Lebensjahre. "Er war unaufhörlich in Todesgefahr. Und das gibt diesem Buch eine unfassbare Eindringlichkeit", sagt Volker Weidermann, "Quartett"-Moderator und Literaturchef des "Spiegel", über "Sonnenfinsternis". Das Buch wird gerne in einem Atemzug mit "Farm der Tiere" und "1984" von George Orwell genannt, der ebenfalls im Spanischen Bürgerkrieg war und zu Koestler ein freundschaftliches Verhältnis hatte. Doch während Orwells Romane fiktive Verrisse totalitärer Staaten sind, hat Koestler sowohl Zeitgeschehen als auch persönliche Erfahrungen unmittelbar literarisch verarbeitet.

Rubaschow gesteht absurde Verbrechen

Analog zu Koestler erkennt Rubaschow, Veteran der russischen Revolution und Held in "Sonnenfinsternis", die Lügen Stalins ebenso wie seinen Selbstbetrug. Der "Nummer eins" im Staat, wie Stalin im Roman genannt wird, geht es eben nicht um den Aufbau einer besseren Gesellschaft, sondern um Machterhalt mit allen Mitteln. Rubaschow wird von einstigen Weggefährten der absurdesten Verbrechen angeklagt - und gesteht sie alle. Er erklärt sich für schuldig. Nicht allein wegen der Folter, sondern auch, weil er erkennt, einem verbrecherischen System gedient zu haben.

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Der Roman verfolgt Rubaschow von der Inhaftierung über den Aufenthalt im Gefängnis bis zur Hinrichtung. Das Besondere dabei ist, dass Koestler die Tragödie beschreibt, ohne dramatische Elemente überzustrapazieren. Das Böse ist ständig spürbar, obwohl es oft subtil bleibt und nicht ausdrücklich erläutert wird. Koestler erkundet mehr die Seelenqual als die körperliche Folter. Und genau das macht den Roman zu etwas ganz Großem: Seine Botschaft ist eine Mission, ohne zum Selbstzweck zu werden. In "Sonnenfinsternis" dominiert die Menschlichkeit, die Koestler auch seinem Helden zugesteht, einem - wie er selbst - geläuterten Kommunisten, der erkennt, dass Verbrechen Verbrechen sind, auch wenn sie einer (angeblich) höheren Sache dienen.

Es wundert nicht, dass Koestler zu einer Galionsfigur des ideologisch aufgeladenen Antikommunismus erklärt und teils sogar verklärt wurde. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der damit verbundenen Hoffnung, dass die Demokratie ein für alle Mal über das diktatorische Prinzip gesiegt habe, verschwand "Sonnenfinsternis" mehr und mehr aus den Buchläden.

Was wusste Koestler?

Pago interessierte sich für das Werk zunächst auch gar nicht als Verleger. "Ich wollte den Roman gerne lesen und stellte fest, dass er vergriffen und nicht mehr lieferbar war", berichtet der Elsinor-Chef im Gespräch mit n-tv.de. Er erkundigte sich bei der Universität Edinburgh, die Koestlers Nachlass hütet, nach den Rechten und erhielt zu seiner Überraschung die Auskunft, dass sie für den deutschsprachigen Raum nicht vergeben waren. So brachte er 2010 den Roman in der Rückübersetzung Koestlers aus dem Englischen heraus. Noch mehr Glück hatte Pago, dass sich Matthias Weßel trotz Anfragen großer Verlagshäuser dafür entschied, die Neuausgabe bei Elsinor zu unterstützen. "Mir ging es nicht allein ums Geld", sagt der Germanist. Der 34-Jährige hat sich vorerst gegen eine wissenschaftliche Laufbahn entschieden. In wenigen Wochen tritt er in Hannover eine Stelle an: als Lehrer für Deutsch und Geschichte.

Auch mit der Wiederentdeckung des Ursprungsmanuskripts, das in Zürich unter "Rubaschow" archiviert war, sind nicht alle Rätsel um Koestler und sein Meisterwerk gelöst. Zum Beispiel die Frage, ob er wusste, dass sich die Originalfassung in der Zentralbibliothek Zürich befindet. Der Schriftsteller hatte Kontakte zum Züricher Europa-Verlag, bei dem 1938 sein Buch "Ein spanisches Testament" erschienen war.

Weßel gehört zu den Wissenschaftlern, die das Objekt ihrer Neugierde bewundern, aber nicht vergöttern und für sakrosankt erklären. Er hat sowohl Indizien dafür gefunden, dass Koestler keine Ahnung von dem Manuskript in Zürich hatte, als auch dafür, dass er es sehr wohl wusste, jedoch nichts sagte, um den Mythos des auf der Flucht geschriebenen Romans nicht zu gefährden.

Quelle: ntv.de

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