Mehr als "Zehn Wahrheiten" Wie man die Einsamkeit erträgt
22.05.2016, 19:05 Uhr
Die Menschen, von denen Miranda July in "Zehn Wahrheiten" erzählt sind einsam, aber noch nicht verloren.
(Foto: imago/Peter Widmann)
Der Titel klingt nach Selbsthilfe-Coaching für den Strandkorb, doch Miranda Julys Kurzgeschichtenband "Zehn Wahrheiten" dient allenfalls der Abschreckung, nicht der Anleitung. Ein Ausflug zum Kern der Einsamkeit.
In einer Welt voll Trübsal suchen Einsame nach irgendwas, das ihrer Existenz Bedeutung verleiht, nach Anschluss an ein System, in dem sie zu Fremden wurden. Klingt zeitgeistig? Stimmt. Wo Miranda July draufsteht, ist immer auch ein bisschen Gen-Y drin, aber eben auch noch mehr.
July ist eine Frau vieler Talente. Ihr Debütfilm "Ich und du und alle, die wir kennen" wurde 2005 mit dem Spezialpreis der Jury beim Sundance Film Festival und in Cannes mit der Caméra d’Or ausgezeichnet. Noch im gleichen Jahr feierte July eine weitere Premiere: als Schriftstellerin. Unter dem kitschig bis poetischen Titel "No one belongs here more than you" (Niemand gehört hier mehr hin als du) veröffentlichte sie einen Kurzgeschichtenband. Und wie eigentlich alles, was July so anfasst, wurde der dann auch ganz hervorragend besprochen.
Träumereien der modernen Boheme
Die lässige Optik der Originalausgabe büßte das Buch bereits in der ersten deutschsprachigen Auflage von Diogenes ein. Wo einst schlichte schwarze Lettern auf grellgelbem Grund nur so dazu einluden, dekorativ auf dem Café-Tisch platziert zu werden, klingt nun bereits der Titel klinisch: "Zehn Wahrheiten". Doch man soll ein Buch ja bekanntermaßen nicht nach dem Einband beurteilen. Und so sieht man es dem Kiwi-Verlag denn nach, dass er die Träumereien der modernen Boheme in seiner Auflage mit Servietten-Kussmund bebildert hat wie eine Beauty-Strecke in irgendeinem mittelmäßigen Frauenmagazin.
Immer dann, wenn jemandem die Stimme einer Generation zugesprochen wird, gibt es diejenigen, die sich durch sie absolut gar nicht vertreten sehen wollen. Während Miranda July unter Eingeweihten also so prophetengleich verehrt wird, wie es der großstädtische Agnostiker eben zulassen kann, wollen andere in ihren verspielten Arbeiten ob deren Zugänglichkeit nur Oberflächliches finden.
Tatsächlich lesen sich einige der 16 Erzählungen wie nicht ganz bis zum Ende gedachte Entwürfe, doch der überwiegende Teil ist großartig. July gelingt verlässlich, wovon Kurzgeschichten leben: Sie findet immer ohne viel Umschweife einen speziellen unmittelbaren Zugang zu den Welten, die sie ihren Lesern eröffnet.
Charmant wie Graupensuppe
Zwei Mädchen, die sich die Eltern wegwünschen, weil sie ihrem inneren Elend nur als Waisen Ausdruck verliehen glauben. Eine Frau, die Ehe als bedeutungslos verdammt, um sich stattdessen um Buddhismus, gesundes Essen und ihre Seelenlandschaft zu sorgen. Das mag alles ein wenig belanglos klingen. July ist aber genau da am besten, wo sie das Gewöhnliche beobachtet, es aus der Distanz nüchtern und mit genau dem richtigen Maß an Härte umreißt, um schließlich ein paar schwer verdauliche Brocken hinzuwerfen. Fertig. Keine Pointe.
Es ist eine Welt mit dem Charme von Graupensuppe, in der die Charaktere von Miranda July vor sich hin trödeln. Aber es ist die schönste, die sie bekommen, weil sie echt ist - daran lässt die Autorin keinen Zweifel. Die Figuren sind traurig, selbstgerecht und isoliert. Doch July erzählt ihre Geschichten mit derart beschwingt minimalistischer Sprache, dass sie im Punkt größter Sinnkrise fast friedlich zu verpuffen scheinen.
Miranda July streift in ihrem Kurzgeschichtenband mehr als zehn Wahrheiten und hütet sich doch davor, sie selbst unumstößlich als solche zu benennen. Vor allem aber schafft sie unangenehme Momente, die man erst einmal aushalten muss. So wie das Leben selbst, nur zum Zuklappen und Weglegen.
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Quelle: ntv.de