Muss man gehört haben Dennis Lyxzén - 100 Prozent Hardcore
30.06.2015, 14:28 Uhr
Capitalism stole my virginity ...
Ein Song, der die Welt verändert? "New Noise" der schwedischen Band Refused gehört sicher dazu. Jetzt gibt es mit dem Album "Freedom" endlich das Comeback. Nur eine der vielen Fronten, an denen ihr Sänger Dennis Lyxzén in Sachen Hardcore und Punk kämpft.
Es gibt so Musikvideos, nach denen man irgendetwas lustvoll kaputtmachen möchte. Ein Drumset. Eine Gitarre. Den Tisch in der Mitte entzweihauen. Oder viel besser: Man will umgehend eine Band gründen. Der Clip zu "New Noise" von der schwedischen Band Refused war so einer. Die Rahmenhandlung mit den maskierten Technikern ist natürlich Nonsens. Wie die Band selbst aber, umringt von ein paar Amps, in diesem kuppelartigen Bau wie für Omas Geburtstag in Hemd und Pulli gekleidet, jene 4-Minuten-Attacke aus Metal, Core, Kreuzüber und Screamo-Vocals zelebriert, wie sie sich in Spasmen windet, Sänger Dennis Lyxzén mit lackierten Fingernägeln noch einmal den Scheitel richtet, um den Song schließlich, an den Füßen aufgehängt, in sein grande Finale zu brüllen - das war klanggewordener Aufbruch, ein Ruf zu den Waffen. The Shape of Punk to come.
Sänger Dennis Lyxzen (vorn), Bassist Inge Johansson (re.) und Schlagzeuger Ludwig Dahlberg (The International Noise Conspiracy) während eines Konzerts im Rahmen des Hurricane Festivals in Scheeßel.
Was kaum jemand ahnte, vielleicht nicht einmal die Band selbst: Kurz darauf, nach der Veröffentlichung des gleichnamigen Albums, war 1998 Schicht im Schacht. Zerstritten, aufgerieben. The Refused were fuckin' dead. Die Historisierung konnte beginnen. Als hätte die Band sich ihren Fans übergeben. Nehmt uns. Macht, was ihr wollt. Wir sind raus. Und die Fans machten. Eine neue Hardcore-Welle orientierte sich am zuweilen fast mathematischen Sound von Refused, ganz vorn dabei solche Bands wie At the Drive-In oder Converge, auch Alcaline Trio oder Against Me sogen Nektar. Während also Refused und ihr epochales, nach Ornette Colemans "The Shape of Jazz to Come" betitelte Album einem Eigenleben frönte, erschloss sich Dennis Lyxzén, umtriebige Lichtgestalt und Polit-Klassizist, zwischen T-Shirt-Slogans und sozialistischen Theoremen aus den Hinterzimmern der Rebellion, neue Ausdrucksformen.
Sexiest man from Sweden
Mit The (International) Noise Conspiracy widmete der Mann aus Umeå sich in der Folge dem Sound der Sixties. Beat, Mod, Garagepunk - diese Sound-Zutaten, abgeschmeckt mit Imperialismus-Kritik und einer Prise Situationismus, machten die Band zur festen Indie-Größe der nuller Jahre. Mit Songs wie "Capitalism stole my Virginity" und Alben vom Schlage "Survival Sickness" (2000) und "A New Morning, Changing Weather" (2001) entwickelten Lyxzén und Band ein krachiges Update des Soundgerüsts von The Who, den Kinks, MC5 und einigen anderen Größen. Modischer Einheitslook bestimmte das Bild auf der Bühne. Mal traten T(I)NC in schwarz-roter Kampfmontur auf, dann wieder in Camouflage, später wurden purpurne Westen und Umhänge aus Samt zum kruden Blickfang. Da konnte selbst das Magazin "Elle" nicht widerstehen und wählte Lyxzén 2004 zum "sexiest Man" von Schweden.
Nach einem letzten Album, "Armed Love" (2008), produziert von Rick Rubin und mit Billy Preston an den Keyboards, verschwand die Band in der Versenkung. In der Folgezeit arbeitete sich Lyxzén mit der Band AC4 wieder an klassischem Punk und Hardcore ab. Zwei Alben stehen zu Buche, hunderte Shows in winzigen Clubs, die sich an Songs wie "Let's go to War" und "Curva del Diablo" berauschten und in zumeist weniger als zwei Minuten an den Spirit von Exploited und Crass, Circle Jerks und Dead Kennedys gemahnten.
Dabei scheint Lyxzéns Tag seit ehedem mehr als 24 Stunden zu haben. Neben seiner Arbeit als Chef des Punklabels Ny Våg erkundet der 43-Jährige zusammen mit einer weiteren Band namens INVSN (vormals Invasionen) auch noch das weite Feld aus New Wave, Gothic und Dark Pop. Dass dennoch Zeit für eine Refused-Reunion blieb, kann wohl nicht einmal der Hyperaktivist selbst erklären. Zunächst spielte die Band um 2012 zahlreiche Shows, beendete dann ihr Comeback. Was viele für einen erneuten Split hielten, entpuppte sich als Missverständnis, das nun im neuen Album "Freedom" seine vorläufige Katharsis erlebt.
Für viele Anhänger gehörte der Split einst zum radikalen Gestus der Band, schon die Reunion rief kritische Stimmen auf den Plan. Dass die nun nach einem Comeback auf Platte nicht eben leiser werden, schert Lyxzén wenig. "Ich glaube, viele Menschen wollten den Mythos aufrechterhalten und dann kamen wir wieder und hatten andere Klamotten an. Das war nicht das, was sie erwartet hatten," so der Sänger jüngst im Interview mit dem Webblog "Noisey". Bandkollege David Sandström brachte es noch knackiger auf den Punkt: "Fick diesen Mythos! Das ist unsere Band, ist mir egal, ob dir das wichtig ist."
Sei es also drum. Der Mythos gehört gefickt und was am Ende zählt, ist eh' auf dem Platz. Und da klingt "Freedom" in seinem Kern eben nach Refused: Rhythmen, die man sich erst einmal mit dem Rechenschieber entschlüsseln muss, um dazu adäquat zu moshen, unterwandert von Lyrics zwischen Pamphlet und Propaganda, gekleidet in Scream-Chöre, gebettet auf brachialen Riffs, die mal 90s-Crossover neu buchstabieren, um drei Takte weiter AC/DC zu huldigen. Ganz New ist dieser Noise also nicht mehr, in seiner brachialen Intensität jedoch ungebrochen packend. The Refused are fuckin' dead? Vorerst ganz sicher nicht.
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Quelle: ntv.de