Tocotronics "Golden Years" "Nazis kann man nur mit politischer Entschlossenheit bekämpfen"
12.02.2025, 18:36 Uhr Artikel anhören
Arne Zank, Dirk von Lowtzow und Jan Müller (v.l.) sind Tocotronic.
(Foto: Noel Richter)
"Golden Years" lautet der Titel des 14. Albums von Tocotronic und könnte nicht ironischer anmuten, wirft man dieser Tage einen Blick auf die Weltlage, die selten schlimmer war. Das sehen auch Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank nicht etwa anders, erklären im Interview mit ntv.de aber ihre Beweggründe für ihre Titelwahl. Zudem geht es um 30 Jahre Bandgeschichte, die Herausforderungen des Alterns und den Einfluss aktueller und persönlicher Krisen auf die kreative Arbeit. Tocotronic erklären, warum klare Sprache in der Musik politisch sein kann, sie ihre Fans bewundern und Nazis mit einem "Kiss of Death" bekämpft werden sollten.
ntv.de: Gesellschaftlich und politisch haben wir gerade alles andere als "Golden Years". Euer Album heißt dennoch so. Aus Trotz, Hoffnung oder persönlichen Gründen?
Dirk von Lowtzow: Wir haben den Titel deshalb gewählt, weil er für uns eine größtmögliche Offenheit hat. Es war uns wichtig, kein geschlossenes, abweisendes System zu schaffen. Wie du richtig sagst, es gibt persönliche Elemente. "Golden Years" bezeichnet auch das letzte Lebensdrittel. Und als Band, die seit über 30 Jahren besteht, befinden wir uns definitiv in einem vorgerückten Alter.
Tatsächlich hat man mit über 50 mehr als die Hälfte vermutlich schon hinter sich.
von Lowtzow: Eben. Gleichzeitig leben wir nicht in goldenen, sondern düsteren Zeiten, weshalb der Titel auch etwas Sarkastisches hat. Das zeigt sich auch visuell - etwa in der Schriftart auf dem Cover, die an Crust-Punk oder Black Metal erinnert. Natürlich kann man ihn auch ein bisschen als Hoffnungsschimmer herauslesen.
Und es gibt den titelgebenden Song auf dem Album, der vorab ausgekoppelt wurde ...
von Lowtzow: Der ist eher eine lakonische Momentaufnahme: ein Blitz des Glücks, der in den Alltag hineinscheint. Natürlich erinnert "Golden Years" aber auch an den Bowie-Song vom Album "Station to Station". "From station to station" passt zu unserer Lebensreise oder, wie wir sagen würden, zu unserer "Via Dolorosa". (lacht)
Ihr seid nach dem Ausstieg von Rick McPhail jetzt wieder in der Ursprungsformation unterwegs. Was macht das mit euch als Band?
Müller: Einerseits macht es uns alle drei traurig, dass wir hier jetzt ohne Rick sitzen. Aber wir spüren auch, dass die Dynamik, die eine Dreierkonstellation mit sich bringt, etwas Spielvolles hat. Es ist jetzt nicht genauso wie vor 20 Jahren, als wir schon einmal zu dritt waren. Aber die Erinnerungen an diese Zeit blitzt schonmal auf und macht mich optimistisch, was die Zukunft der Band angeht.
Macht das für das Touren einen Unterschied? Urlaub zu dritt ist ja oft nicht so erquicklich.
von Lowtzow: Die haben wir deswegen auch nie gemacht. (lacht)
Da gibt es schnell eine Grüppchenbildung, und einer guckt meist in die Röhre.
von Lowtzow: Genau deshalb haben wir das gar nicht erst ausprobiert. Aber gerade in den Anfangszeiten der Band hatte unsere Zeit auf Tour schon etwas von einem gemeinsamen Urlaub, bei dem Arbeit und Freizeit oft schwer zu trennen waren. Die Touren hatten damals etwas von Abenteuern - alles war neu und aufregend.
Früher waren vermutlich noch Doppelzimmer Standard, heute schläft jeder allein?
Müller: Seit Kurzem, ja. (lacht)
von Lowtzow: Neulich nachts habe ich geträumt, wir hätten wieder ein Doppelzimmer zu zweit.
Müller: Nee Dirk, es wird ein Acht-Bett-Zimmer im Hostel mit Leuten, die wir nicht kennen. Hast du die Mail von der Agentur nicht bekommen? (lacht)
Man kennt euch als poetische Band, aber in den letzten Jahren sprecht ihr immer öfter Klartext. Hattet ihr Sorge, dass man euch plötzlich falsch verstehen könnte?
von Lowtzow: Unsere Art zu schreiben und Musik zu machen hat sich aus einem inneren Gefühl heraus entwickelt - genauso, wie es Ende der 90er bei unserem Album "K.O.O.K." geschah, als wir uns stärker von abstrakteren, theorielastigen Ansätzen inspirieren ließen. Mit der Zeit, so etwa ab 2013 oder 2014, kam das Gefühl auf, dass diese Sprache manchmal zu gewollt und 'verbastelt' wirkte - auf eine blöde Art hermetisch, nicht offen und zugänglich. Lyrik darf natürlich rätselhaft sein.
Muss sie das nicht sogar?
von Lowtzow: Ja, das macht sie spannend, aber wenn man die Komplexität nur um ihrer selbst willen steigert, wird das schnell selbstgerecht. Ab 2015, zum Beispiel mit dem Song "Ich öffne mich" vom Roten Album, hat sich allmählich ein Wechsel vollzogen. Das war keine bewusste Entscheidung, sondern ein schleichender Prozess, in dem wir gemerkt haben, dass eine klarere, weniger verklausulierte Sprache etwas Befreiendes und Unbelastetes mit sich bringen kann. Es ist, als ob eine neue Direktheit in unsere Musik Einzug gehalten hat. Ich denke, das hat ihr sehr gutgetan.
Müller: Ich finde es interessant, dass es wirklich ein Prozess ist - vielleicht hat er sogar schon vor 2015 angefangen. Arne und ich erleben das ja, weil Dirk die Texte schreibt, und wir haben dann sehr früh Zugang dazu. Das fand ich damals schon spannend, weil mich die Richtung, in die es ging, interessiert hat. Natürlich haben wir darüber gesprochen, und ich dachte, man sollte das jetzt auch nicht mit der Brechstange machen. Aber es ist toll, wie sich das seit dem Album von 2015 diese Richtung entwickelt. Natürlich gibt es immer Gegenbeispiele und Brechungen, aber es ist schon ein klarer Weg, der eingeschlagen wurde.
von Lowtzow: Von 1999 bis 2013 war vieles, was in meine Texte einfloss, stark von theoretischen Schriften geprägt - sei es Kunsttheorie, philosophische Theorie oder andere theoretische Ansätze. Das fand ich wahnsinnig faszinierend. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich mich zu gut in diesem Bereich auskenne und zu souverän darin bewege. Das führte dazu, dass ich unbewusst begann, mich zu wiederholen - was gerade bei so einer vermeintlich originellen Textform fatal ist. Gleichzeitig entwickelte sich bei mir ein Interesse am autobiografischen Schreiben. Das begann etwa 2014 oder 2015 mit Autorinnen wie Annie Ernaux. Sie berichtet auf eine einfache, klare Weise aus ihrem Leben - und schafft es dennoch, dabei politisch, sozial relevant und fast ethnografisch zu sein. Das hat mich wahnsinnig inspiriert. So entstand das Album "Die Unendlichkeit", das tatsächlich wie eine Art musikalische Autobiografie aufgebaut ist

(Foto: Noel Richter)
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Mit steigendem Lebensalter erweitert sich der Erfahrungshorizont. Macht dieser Fakt das autobiografische Schreiben nicht auch leichter?
von Lowtzow: Ein wichtiger Punkt. Es hat auch was mit dem Lebensalter zu tun. Denn klar, wenn man ins Autobiografische geht, muss man natürlich auch schon eine Zeit lang gelebt haben. (lacht)
Lest ihr eigentlich Kritiken und Kommentare von Fans? Wie geht ihr mit negativen Bemerkungen um?
Müller: Es wäre geheuchelt, zu behaupten, wir ignorieren das völlig. Natürlich bekommt man es mit - ob im Internet oder bei Konzerten. Man will ja eigentlich auch eine Reaktion haben. Deshalb geht man schließlich auf die Bühne und spielt vor Publikum. Ich finde es auf jeden Fall beeindruckend, wie viele Haken diese Leute mit uns geschlagen hat und die bereits erwähnten Prozesse mitgegangen ist.
Arne Zank: Man hat denen auch schon so einiges vorgesetzt. In einem der letzten Interviews habe ich mir zum ersten Mal vergegenwärtigt, was die armen Menschen alles mit uns aushalten müssen. (lacht) Die Reaktionen, die wir jetzt bekommen, sind oft von Menschen, die in bestimmten Phasen dazu kamen - und die vielleicht später auch wieder abgesprungen sind. Ich finde das völlig in Ordnung. Manche sagen dann: 'Da habe ich euch irgendwie verloren, aber jetzt bin ich wieder dabei.' Das ist schön, denn wer soll das auch 30 Jahre lang durchhalten?
von Lowtzow: Ich glaube, unsere Fans wissen es zu schätzen, dass wir uns nie angebiedert haben. Wir hatten immer eine große Wertschätzung für die Leute, die uns gehört haben. Und wenn man sich begegnet - ob bei Signierstunden, auf der Straße oder in Gesprächen mit Journalisten - merkt man, wie intensiv sich manche mit unserer Musik auseinandersetzen. Das beeindruckt mich sehr. Ich denke, die Leute spüren, dass wir nie aufgesetzt waren, sondern immer genau das gemacht haben, was wir machen wollten. Und das wird auf lange Sicht honoriert.
Das sind aber alles Leute, die Geld in eine Karte oder eine Platte investiert haben. Im Internet ist man doch auch schon mal mit Leuten konfrontiert, die einem weniger wohlgesonnen sind?!
Müller: Das ist ein strukturelles Problem. Es gibt viel Hass im Internet, würde ich mal sagen. Das hat sich vielleicht schon rumgesprochen?! (lacht)
Das Kritisieren rechten Gedankenguts spielt schon immer eine wichtige Rolle bei Tocotronic. Wie geht es euch aktuell mit dem Erstarken der AfD? Und ist Liebe die Antwort? Lieber Nazis küssen, als sie schlagen, wie ihr es in "Denn sie wissen, was sie tun" benennt?
von Lowtzow: Der Satz "Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt" ist ein gutes Beispiel für drastische Lyrik. Dieser Satz ist drastisch und trägt eigentlich eine Eliminierungsfantasie in sich. Die Vorstellung, jemanden mit den Händen am Kopf zu packen und ihm einen Kuss auf den Mund zu drücken, kennt man aus Horrorfilmen. Der Kuss wird zur gewaltsamen Handlung, die jemandem sogar die Luft nehmen kann - ein regelrechter 'Kiss of Death'. Dieser Kuss steht im Widerspruch zu der Aussage "Aber niemals mit Gewalt", die dadurch als scheinheilig entlarvt wird. In dieser Dialektik liegt für mich eine poetische Kraft, aber auch ein böser Witz. Letztlich zeigt das: Nazis, Rechtsfaschisten und Rechtsextremisten kann man nur mit politischer Entschlossenheit bekämpfen - wie etwa durch ein Verbot der AfD. Alles andere bleibt bloß Bildsprache, die sich durch ihre Widersprüche selbst hinterfragt.
Müller: In der AfD haben Neonazis mittlerweile einen großen Teil der Macht hinter sich versammelt. Deshalb sehe ich das nicht als Kampf gegen Windmühlen - es ist eine echte Bedrohung, gegen die man sich zur Wehr setzen muss. Dirk hat das gut gesagt, was man tun kann: Es ist sicher schwierig, so etwas in einem poetischen Text zu behandeln, fast wie die Quadratur des Kreises. Trotzdem finde ich, dass uns das mit diesem Text gelungen ist. Natürlich enthält er keine direkte Handlungsanweisung, und genau deshalb entsteht vielleicht der Bedarf, in Interviews darüber zu sprechen. Aber das ist völlig in Ordnung, weil es den Dialog eröffnet.
Ein anderer Song auf dem Album heißt "Bye Bye Berlin". Ist das ein Abgesang auf die Hauptstadt, in der ihr ja auch selbst lebt?
von Lowtzow: Das war nicht als solcher gedacht. Oft entstehen Songs aus einem spontanen Geistesblitz, und in diesem Fall war es ein Gemälde, das mich inspiriert hat. Es stammt von dem amerikanischen Maler Austin Martin White und heißt "Bye Bye Berghain - Fire at the Church of Clubs". Ein beeindruckendes Bild! Solche Geistesblitze führen oft dazu, dass man sagt: 'Wow, daraus könnte ein Song werden!' Was ich spannend finde, ist, dass Lieder manchmal erst im Laufe der Zeit politisch werden. "Denn sie wissen, was sie tun" war natürlich von Anfang an als politisches Lied, als Protestsong, konzipiert. Aber es gibt Stücke, bei denen das Politische erst später sichtbar wird.
Und so ist es bei "Bye Bye Berlin"?
von Lowtzow: Ja, denn wenn wir jetzt über die Kürzungen in der Berliner Kulturpolitik durch den Senat sprechen, gewinnt "Bye Bye Berlin" plötzlich eine neue politische Aktualität. Das zeigt, dass ein Lied nicht immer von Anfang an eine feste Botschaft haben muss, sondern sich mit der Zeit verändern und neue Bedeutungen annehmen kann.
Euer Album "Nie wieder Krieg" ist Anfang 2022 erschienen. Heute gibt es in der Welt sogar noch mehr Krisen als vor drei Jahren. Wobei es in Syrien einen kurzen Lichtblick gab … Wie geht ihr mit dieser "Niederlage" um?
von Lowtzow: Das sind genau die unvorhergesehenen Ereignisse, die es immer wieder gibt. Manchmal hat man das Gefühl, dass sich gar nichts bewegt, dass alles in einer Art Erstarrung verharrt. Und dann kommt plötzlich etwas Unerwartetes, durch zufällige Konstellationen oder Entwicklungen, die keiner vorhersehen konnte. Solche Momente können einem tatsächlich Hoffnung geben.
Die einem dann innerhalb von Minuten bei X, Tiktok und Co. auch schon wieder genommen wird.
Müller: Ich habe irgendwann mal privat für mich Instagram entdeckt, weil ich es damals als gutes Medium empfand. Zu der Zeit war es noch recht simpel: Man postete ein Bild und konnte es mit ein wenig Text kommentieren. Das hat mir gefallen, weil es mir einen kreativen Raum bot, in dem ich mich gut ausleben konnte. Mit der Zeit hat sich das jedoch verändert. Mittlerweile mache ich neben der Band auch Podcasts und nutze Social Media, um die zu promoten. Dabei habe ich gemerkt, wie sich Plattformen wie Instagram immer mehr an Medien wie Tiktok angleichen. Das finde ich herausfordernd, weil man das Gefühl hat, ständig den sich ändernden Algorithmen hinterherzujagen und ihnen gerecht werden zu müssen. Social Media kann ein sinnvoller Teil der beruflichen Tätigkeit sein - das nutzen wir als Band ja auch. Aber es gibt die Gefahr, sich dem zu sehr zu verschreiben. Das kann sehr toxisch werden.
Zank: Social Media hat ein enormes Suchtpotenzial und ist hochgradig ungesund - das meine ich wirklich so. Jeder von uns dreien hat einen anderen Umgang damit, und das ist auch völlig in Ordnung. Ich persönlich habe ein Suchtproblem, das ich auch schon mal öffentlich gemacht habe. Und ich merke, dass Social Media für mich gefährlich ist. Gerade diese Sache mit der Dopaminausschüttung, die durch Likes oder Interaktionen ausgelöst wird, ist ein Problem. Es ist suchtfördernd. Und genau deshalb finde ich, dass in diesem Bereich viel zu wenig reguliert wird. Persönlich versuche ich, damit umzugehen, indem ich regelmäßig 'Digital-Diäten' mache. In solchen Zeiten faste ich regelrecht von Social Media, vor allem nach Ereignissen wie dem 7. Oktober. Ich muss dann einfach alles ausschalten, weil ich sonst Gefahr laufe, eine Depression zu kriegen.
Müller: Da kommt dann noch die politische Problematik dazu. Wenn man zum Beispiel über X spricht, weiß man ja, wer dahintersteht, und bei Tiktok ist es ähnlich - auch schwierig, weil es eben von einer autoritären Regierung beeinflusst wird.
von Lowtzow: Das passt zu deiner Frage zur AfD und dem Gefühl der Machtlosigkeit. Ich glaube schon, dass man etwas tun könnte, zumindest auf EU-Ebene. Man sollte versuchen, Social-Media-Plattformen und ihre Algorithmen stärker zu regulieren. Es müsste verhindert werden, dass diese Algorithmen Hass und Hetze in wenigen Schritten fördern. Ich glaube, wenn es den politischen Willen gäbe, könnte man hier sehr viel tun. Es geht dabei nicht um Zensur - ich sage nicht, dass solche Inhalte komplett verschwinden müssen. Vielleicht ist das naiv, aber ich glaube eben, dass man durch eine solche Regulierung der Algorithmen die Entwicklung hin zu Rechtsextremismus und Verschwörungsideologien zumindest bremsen könnte. Aber es passiert nicht. Und da steckt wahrscheinlich schon eine neoliberale Ideologie dahinter.
Es gab 2024 zum 30. Jubiläum von Tocotronic einen Podcast über das, was war. Aber was erwartet uns von euch in den nächsten 30 Jahren?
Müller: Schön, dass du so optimistisch bist, das freut mich sehr.
von Lowtzow: Das ganze Gespräch hatte sowas ungemein Optimistisches. (lacht)
Zank: Aber das liegt nur daran, dass hier fast alle Schwarz tragen.
Mit Tocotronic sprach Nicole Ankelmann
Das Album "Golden Years" ist ab dem 14 . Februar überall erhältlich.
Quelle: ntv.de