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Neuer Leiter für Problemschule Gewaltbereite Schüler? "Zehn Prozent sind grenzüberschreitend"

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Schulleiter Engin Catik ist zuversichtlich, die Friedrich-Bergius-Schule in Berlin wieder in die Erfolgsspur zu bekommen.

Schulleiter Engin Catik ist zuversichtlich, die Friedrich-Bergius-Schule in Berlin wieder in die Erfolgsspur zu bekommen.

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Gewalt, Mobbing, ständiges Schwänzen, kranke Lehrer: Der Brandbrief der Friedrich-Bergius-Schule im November war alarmierend. Ein neuer Leiter soll die Schule aus der Krise holen. Ergin Catik hat innerhalb von fünf Jahren schon eine andere Berliner Schule aufgepäppelt. Wie er das schaffen will? Mit Konsequenz, Vertrauen und "zugewandter Autorität" erklärt er im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Ein Ziel: Die Lehrer sollen wieder Spaß an ihrem Job haben. Auf seiner langen To-do-Liste stehen außerdem Lerngruppen, Projekte mit der Nachbarschaft und ein Wachschutz vor der Schule - zumindest vorübergehend.

ntv.de: Seit Ende Januar sind Sie kommissarischer Schulleiter an der Friedrich-Bergius-Schule in Berlin-Friedenau. Vorher haben Sie die Johanna-Eck-Schule in Tempelhof aus der Krise geholt. Sind Sie Berlins neuer Schulretter?

Engin Catik: Die Zuschreibung kommt von außen. Ich würde mich gar nicht so bezeichnen. Die Johanna-Eck-Schule habe ich nicht allein gerettet, es war ein Gesamtwerk der Lehrerinnen und Lehrer, der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und vieler Kooperationspartner. Wir haben an der Johanna-Eck-Schule vor fünfeinhalb Jahren eine Krisensituation erlebt und dann den Turnaround geschafft. Ich hoffe, dass ich es mit dem Team und den Menschen hier an der Friedrich-Bergius-Schule auch schaffe.

Wie kam es dazu, dass Sie hier gelandet sind?

Ich wurde von meinen Vorgesetzten gefragt, ob ich diese Schule übernehmen möchte, weil ich schon einmal bewiesen habe, dass ich einen Wandel schaffen kann. Das ist eine hohe Anerkennung meiner Arbeit. Ich musste aber trotzdem darüber nachdenken, weil mir die Johanna-Eck-Schule ans Herz gewachsen ist und ich dort viel Schweiß und Tränen investiert habe. Auch meine drei Kinder kennen die Schule von innen.

Wie erleben Sie die Situation an der Friedrich-Bergius-Schule?

Ich hatte einen guten Einstieg. Alle haben mich herzlich empfangen. Vor allem die Schülerinnen und Schüler hatten großes Interesse. Es ist ein gutes Zeichen, dass sie an der Beziehung zu den Lehrkräften oder mir als Schulleiter arbeiten wollen. Die meisten Schülerinnen und Schüler sind nicht angsteinflößend. Im Gegenteil. Es gibt aber Schülerinnen und Schüler, die sich im Unterricht nicht an die Regeln halten. Wobei ich im Vertretungsunterricht in einer zehnten Klasse keine Schwierigkeiten hatte.

Der ehemalige Schulleiter Michael Rudolph war bekannt für seine Strenge, hat auch mal hart durchgegriffen. Haben Sie auch ein Markenzeichen?

Meine zugewandte Autorität. Wir Schulleitungen müssen authentisch sein. Zu Michael Rudolph hat diese strenge Art der Führung gepasst. Ich bin auch jemand, der klar und konsequent ist. Und ich nehme mir Zeit für Gespräche, baue Vertrauen auf, stelle Beziehungen her und höre den Jugendlichen zu.

Ende Januar hat ein 15-Jähriger an der Friedrich-Bergius-Schule einem gleichaltrigen Jugendlichen Reizgas ins Gesicht gesprüht. Sie haben die Polizei gerufen. Kommt man bei solchen Vorfällen nicht mit Gesprächen weiter?

Sowohl als auch. Ich habe die Polizei gerufen, weil es eine Straftat war. Es gibt den Verdacht der leichten Körperverletzung. Ich habe mich mit den Eltern, den Schulpsychologen und dem Jugendlichen zusammengesetzt. Wir müssen ihm sein Fehlverhalten ganz klar aufzeigen und sanktionieren. Mithilfe der Polizei muss es nach dem Schulgesetz eine pädagogische Aufarbeitung geben, damit solche Vorfälle nicht wieder vorkommen.

Wie viel Gewalt gibt es an der Schule?

Die im Brandbrief beschriebenen Verhaltensweisen der Jugendlichen entsprechen sicherlich der Wahrheit. Einige unserer 400 Schülerinnen und Schüler sind sehr grenzüberschreitend. Nicht jeder ist bereit, 90 Minuten am Stück oder fünfmal in der Woche von 7.30 Uhr bis 14.30 Uhr im Unterricht zu sitzen. Das ist eine Herausforderung, vor allem nach der Pandemie. Auch für die Lehrer. Aber ich spreche hier von zehn Prozent der Jugendlichen. 90 Prozent sind anständig, haben ein klares Ziel vor Augen, wollen ihren Abschluss machen und dann in die Ausbildung gehen, streben vielleicht das Abitur an. Die deutliche Mehrheit weiß, in welche Richtung es gehen soll.

Im Brandbrief schreiben die Lehrer, dass die Erziehung einen Großteil des Unterrichtsalltags ausmacht. Wie wollen Sie die Lehrer entlasten?

Das Konzept der Schulsozialarbeit ist bei dieser herausfordernden Schülerschaft nicht das richtige. Zehn Prozent passen schwer in solch ein Schulsystem. Aber auch die anderen 90 Prozent sind eben Jugendliche. Die haben auch nicht immer Lust auf Unterricht. Wir müssen angemessen darauf reagieren. Um das Fehlverhalten richtig einzuschätzen, braucht es aber eine Beziehung zu den Jugendlichen. Diese entsteht nur, wenn man Ruhe im Laden hat und nicht ständig über sich selbst lesen muss, dass man nicht anständig ist.

Die Überforderung der Lehrer ist nachvollziehbar. Vor ihnen sitzen 26 Individuen, eine sehr heterogene Schülerschaft. Von Menschen, die zugewandert sind und der Unterrichtssprache noch nicht folgen können, bis zu Menschen, die jedes Bildungsangebot annehmen und das Abitur anstreben. Dieser Heterogenität gerecht zu werden, ist nicht einfach.

Welchen familiären Hintergrund haben Ihre Schüler?

Es gibt bürgerliche Familien, es gibt Jugendliche aus sozial schwachen Milieus. Sie brauchen unterschiedliche Angebote. Das schaffen wir auch. Was ein vielfältiges Angebot angeht, haben wir an der Schule noch Nachholbedarf.

Dafür braucht es Unterstützung von außen. In dem Brandbrief stand, dass sich das Kollegium eine Praxislerngruppe oder ein produktives Lernen wünscht. Das befürworte ich. Es braucht ein Angebot für Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, der Schulstruktur zu folgen.

Sie möchten einen Wachschutz vor der Schule postieren, wie es Berlins Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch angeboten hatte. Ihre Vorgängerin wollte stattdessen einen Pförtnerdienst.

Am liebsten wäre mir, wenn wir den hier nicht brauchen würden. Ich nehme das Angebot der Senatorin aber an. Der Wachschutz ist schon beantragt. Er soll für Ruhe und Sicherheit sorgen. Und dafür, dass schulfremde Personen nicht in das Schulgebäude kommen. Es gab die Situation, dass Menschen von außerhalb ein Mitglied der Schulgemeinschaft bedroht haben. Der Wachschutz kann gern morgens und nachmittags vor Ort sein. Ich möchte ihn temporär etablieren.

Ich stehe selbst jeden Morgen und jeden Nachmittag am Portal. Ich begrüße die Schülerinnen und Schüler freundlich, mache sie darauf aufmerksam, dass sie ihre Kapuze abnehmen und den Kaugummi ausspucken sollen.

Welche Befugnisse hat der Wachschutz?

Der Wachschutz signalisiert, wenn du hier rein möchtest, musst du an mir vorbei. Er kann gern mit den Kindern sprechen. Erfahrungen aus anderen Bezirken wie Berlin-Neukölln haben gezeigt, dass auch diese Menschen eine Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufbauen können. Aber wenn es um die Aufsichtspflicht oder Konflikte geht, will ich den Wachschutz rausnehmen.

Was benötigen Sie, um Ihre Pläne umzusetzen: mehr Geld, mehr Unterstützung durch die Schulverwaltung oder mehr Personal?

Ich brauche vor allem Zeit. Die Personalausstattung dieser Schule ist vollkommen ausreichend. Sie liegt bei nahezu 100 Prozent. Mehr Ressourcen für die digitale Ausstattung sind immer wünschenswert. Ich arbeite sehr gerne kooperativ und partizipativ. Je mehr Leute in Entwicklungsprozesse involviert sind, desto besser. Konzepte können dann viel schneller umgesetzt und etabliert werden.

Sie bauen ein Entscheider-Team auf?

Genau. Es gibt eine Steuergruppe, die vor meiner Zeit installiert wurde. Es braucht aber noch weitere Gremien, wie eine erweiterte Schulleitung. Diese besteht aus der Leitung, Lehrkräften und der Schulsozialarbeit. Und es gibt Gespräche mit weiteren Gremien wie der Schüler- und Elternvertretung. Wir bekommen die Schule wieder in die Erfolgsspur, da habe ich keine Bedenken. Es muss nur an den richtigen Stellschrauben gedreht werden.

An welchen Stellschrauben?

Wir müssen Strukturen etablieren und Handlungsleitfäden installieren. Eine Kollegin sagte zu mir: "Sie waren so ruhig bei dem Pfeffersprayeinsatz." Bei so einem Vorfall gibt es eine Folge von Aktionen: Polizei und Feuerwehr rufen, Schulpsychologie anrufen, Pressestelle der Senatsverwaltung informieren. Ich würde gerne dafür sorgen, dass meine Kolleginnen und Kollegen diesen Job wieder mit Spaß machen, aber auch wissen, was sie zu tun haben. Der Spaß ist aufgrund dieser herausfordernden Situation verloren gegangen.

Im Brandbrief war die Rede davon, dass die Eltern ihre Kinder im Schulalltag kaum unterstützen, manche sitzen sogar im Gefängnis. Wie kann die Zusammenarbeit mit den Familien besser werden?

Die Eltern haben großes Interesse daran, dass ihre Kinder Erfolg haben - auch wenn sie aus sozial schwachen Milieus kommen. Die Informationsveranstaltung, auf der ich vorgestellt wurde, war gut besucht, es gab engagierte Fragen. Ich komme selbst aus einer migrantischen Familie, die "bildungssystemfern" war. Das deutsche Bildungssystem zu verstehen, ist eine Herausforderung. Dieses System muss ich den Eltern erklären, damit sie wissen, wie sie unterstützen können. Die Eltern dieser grenzüberschreitenden Jugendlichen nehmen Gespräche oder Termine dagegen gar nicht erst wahr. Das muss unsere Gesellschaft dann aushalten. Wir Pädagoginnen und Pädagogen sind verpflichtet, diese Erziehungsarbeit zu übernehmen.

Fehlt den Lehrern nicht die Ausbildung für diese Erziehungsarbeit?

Nein. Im Schulgesetz steht nicht nur, dass wir unterrichten müssen, sondern auch erziehen, beraten, informieren und Schulentwicklung betreiben. Menschen, die den Lehrerberuf ergriffen haben, wussten sehr wohl, worauf sie sich einlassen. Die Heterogenität in der Schülerschaft ist fordernd. Dazu kommen auch Förderschülerinnen und Förderschüler, die Lern- oder Sprachschwierigkeiten haben. Es ist ein Knochenjob, aber es ist einer der schönsten Berufe, die es gibt. Mehrere Kollegen sind seit über 20 Jahren an der Friedrich-Bergius-Schule, sie haben sich jeder Herausforderung in der Vergangenheit gestellt.

Welche Pläne haben Sie für die nächsten Monate?

Ich habe eine lange To-do-Liste. Viele Dinge möchte ich zum neuen Schuljahr umsetzen. Zum Beispiel einen digitalen Stundenplan, den die Schüler vorgeschlagen haben. Außerdem soll es Projekte mit der Nachbarschaft geben. Jugendliche sollen Seniorinnen und Senioren beibringen, wie man sein Tablet einrichtet oder mit Apps umgeht. Der Sozialraum ist ein wichtiger Aspekt in der Schulentwicklung.

Mit Engin Catik sprach Caroline Amme. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Vollständig können Sie es im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" anhören.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de, cam

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