Experte Vorländer im Interview "Das europäische Asylsystem ist kollabiert"
20.11.2023, 07:53 Uhr Artikel anhören
Ein griechischer Grenzschützer beobachtet die türkische Seite am anderen Ufer des Flusses Ebros.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
Nach der Bund-Länder-Einigung bremst der Vorsitzende des Sachverständigenrats Migration, Hans Vorländer, die Erwartungen: Geringere Leistungen für Asylbewerber würden den Migrationsdruck nicht senken. Auch Drittstaatenverfahren sieht der Wissenschaftler skeptisch. Er hält andere Stellschrauben für wichtiger.
ntv.de: Seit Wochen erleben wir eine intensive Migrationsdebatte. Beobachten Sie einen produktiven Ideenwettbewerb oder doch mehr die Produktion heißer Luft?
Hans Vorländer: Jedenfalls steht die Politik unter enormem Handlungsdruck. Die öffentliche Debatte genauso wie die sehr unterschiedlichen Vorstellungen über mögliche Lösungen zur Begrenzung der Migration setzen einen hohen Erwartungsrahmen. Diese Erwartungen versucht man zu erfüllen - wohl wissend, dass die einzelnen Vorschläge nicht die an sie geknüpften Versprechen erfüllen werden.
Sie sind Vorsitzender des Sachverständigenrats Migration. Wird die Wissenschaft erhört oder entkoppelt sich die politische Debatte?
Viele Akteure aus dem politischen Raum suchen den wissenschaftlichen Rat, aber die Wissenschaft kann nur Empfehlungen abgeben. Entscheiden muss die Politik, und sie muss auch die Akzeptanz von Entscheidungen in der Bevölkerung gewinnen.
Sie durften am Tag nach der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) vor der SPD-Fraktion sprechen. Was haben Sie den Abgeordneten der führenden Regierungspartei mitgegeben?
Ich habe für Realismus und Pragmatismus plädiert und über die unterschiedlichen Stellschrauben gesprochen, die hier und da zu einer gewissen Verringerung der irregulären Zuwanderung führen könnten. Auch habe ich darauf hingewiesen, wo beim Migrations- und Integrationsmanagement noch effizienter vorgegangen werden könnte, etwa bei der Arbeitsmarktintegration. Wir wissen, dass Akzeptanz von Zuwanderung wesentlich davon abhängt, ob diese Menschen schnell für den eigenen Lebensunterhalt sorgen können. Ein weiterer Aspekt ist die EU-Ebene: Das europäische Asylsystem ist zusammengebrochen. Die derzeit verhandelte Reform muss zu neuen Wegen finden. Das berührt unter anderem die theoretisch immer noch geltenden Rückübernahmen durch Länder, wo Menschen zuerst EU-Boden betreten haben. Und es geht dabei auch um Asylverfahren an den EU-Außengrenzen oder in anderen Staaten.
Gehen wir die Punkte durch: Was muss beim Migrationsmanagement besser laufen?

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)
Hans Vorländer ist Direktor des 2017 gegründeten Mercator Forums Migration und Demokratie (MIDEM) sowie des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung (ZVD) an der TU Dresden. Er ist Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration, der politische Entscheider in Bund, Ländern, Kommunen sowie die Zivilgesellschaft berät.
Hier sind vor allem die Kommunen zuständig. Doch die unterschiedlichen Zuständigkeiten führen in der Verwaltungspraxis zu nicht immer reibungslosen Verflechtungen. Jobcenter, Ausländerbehörden, die Unterbringung in Wohnungen, Kitas und Schulen: Das zieht aufwendige Abstimmungsprozesse nach sich. Hinzu kommt die mangelnde Digitalisierung. Die Betroffenen müssen sehr viele Behördengänge persönlich machen. Des Weiteren brauchen Länder und Kommunen eine verlässliche Finanzierung. Der Bund hat nun Zusagen gemacht, den Ländern Kopfpauschalen zu zahlen. Die Länder müssen dafür Sorge tragen, dass die Mittel die Kommunen erreichen und sie so solider und verstetigt Personal einsetzen können. Auch die durchgehende Digitalisierung ist im Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz anvisiert. Die braucht es dringend, von der Erstaufnahme bis zur Arbeitsmarktintegration.
Fehlende Digitalisierung ist doch ein generelles Problem der deutschen Verwaltung.
Ich will mir da kein Urteil erlauben, aber gerade im Bereich Migration und Integration sind die Verfahren sehr aufwendig. Wenn dann noch handschriftlich gearbeitet wird und Unterlagen von Behörde zu Behörde per Post versendet werden, verlängert das jede Entscheidung - nicht nur in Asylverfahren. Das betrifft auch die Anerkennung von Qualifikationen und den Eintritt in den Arbeitsmarkt.
Es geht also auch um Zentralisierung und Harmonisierung in einem föderalen System?
Für Migrationssteuerung ist der Bund zuständig, umsetzen müssen es aber Länder und Kommunen. Das Bundesamt für Migration (BAMF) ist als Bundesbehörde unter anderem zuständig für Sprach-, Orientierungs-, und Integrationskurse. Die müssen dann aber von den Kommunen vermittelt werden. Angeboten werden diese Kurse wiederum von sehr vielen verschiedenen Trägern. Der Abstimmungsbedarf ist groß. Gemeinsame IT-Plattformen, wie sie der MPK-Beschluss vorsieht, können deshalb wirksame Stellschrauben sein.
Sie sprachen zudem über Rückübernahmen. Deutschland nimmt viele Menschen auf, für die eigentlich andere Staaten zuständig gewesen wären, weil sie dort zuerst EU-Boden betreten haben. Diese Außengrenzstaaten stellen sich aber quer. Was soll die Bundesregierung da tun?
Nach der Dublin-Verordnung sollte diese Rückübernahme die Regel sein. Wir sehen aber, dass in Deutschland oder Österreich die Zahl der Asylverfahren viel höher ist als etwa in Italien. Weil Rom niemanden zurücknimmt aus Deutschland, nimmt Deutschland Italien auch keine Menschen mehr ab. Das alte Dublin-System funktioniert nicht mehr und Deutschland kann nur begrenzt Druck ausüben, damit die anderen Länder ihren Anteil leisten. Die Reform des Gemeinsamen Asylsystems ist der Versuch, dies zu ändern und den Solidaritätsmechanismus auf neue Füße zu stellen.
In Deutschland gibt es skeptische Stimmen zu der Reform, etwa mit Blick auf Außengrenzverfahren für Menschen mit geringer Bleibewahrscheinlichkeit. Was soll eigentlich aus Menschen werden, die im Außengrenzverfahren abgelehnt werden, die aber auch nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können? In Deutschland werden sie üblicherweise geduldet, im Außengrenzverfahren blieben sie auf unbestimmte Zeit in geschlossenen Einrichtungen.
Außengrenzverfahren wären nicht viel anders als die Verfahren, die Außengrenzstaaten als Erstaufnahmeländer auch jetzt schon durchführen müssten. Auch Schnellverfahren müssten rechtssicher ausgestaltet sein und etwa eine unabhängige Verfahrensberatung anbieten. Was mit Menschen ohne Asylberechtigung geschehen soll, ist ungeklärt. Dafür bräuchte es Rücknahmeabkommen mit den Herkunftsländern. Die Menschen einfach in einen anderen Drittstaat zu schicken, der sich zur Aufnahme bereit erklärt, ist schwierig, weil die EU-Staaten auch für den Schutz der Menschenrechte dieser Personen zuständig sind, wenn sie einmal EU-Boden betreten haben. Das ist alles nicht von heute auf morgen machbar und wird nicht zu einer schnellen Senkung der Zuwanderung führen.
Laut MPK-Beschluss soll sogar geprüft werden, ob Deutschland, unabhängig von der EU, Drittstaatenverfahren etablieren kann.
Das ist unter bestimmten Bedingungen rechtlich durchaus möglich, aber es müsste sich ja erst einmal ein Staat hierzu bereit erklären. Dann braucht es entsprechende Infrastruktur und Logistik. Das Land müsste zudem bei den Verfahren entweder unsere Standards übernehmen oder die internationale Flüchtlingsorganisation IOM oder das UN-Flüchtlingswerk UNHCR übernehmen die Prüfung auf ein Schutzrecht. Dann ist aber immer noch offen, was aus den Menschen wird, deren Anträge abschlägig beschieden werden.
Im sogenannten Ruanda-Modell sollen andere Staaten fern der EU gegen Bezahlung Migranten übernehmen. Ist das eine Möglichkeit?
Die Idee lautet, Asylsuchende gleich in ein Land auszufliegen, mit dem es eine entsprechende Zusammenarbeit gibt, und dort dauerhaft unterzubringen. So schwebt es der britischen Regierung vor. Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens hat aber untersagt, Menschen nach Ruanda abzuschieben, weil sie dort nicht sicher seien. Auch Dänemark ist mit einem ähnlichen Ansinnen bislang gescheitert. Die Unterbringung in Drittstaaten ist nun einmal sehr komplex und nicht kurzfristig umzusetzen. Und man steht vor den gleichen Problemen wie beim Asylverfahren in Drittstaaten: Was wird aus den Menschen, die keinen Schutzstatus zugesprochen bekommen? Dazu kommen Fragen rechtlicher Natur und bei der Unterbringung.
Recht lässt sich ändern oder ignorieren, wie es auch der britische Premier Rishi Sunak mit Blick auf die Europäische Menschenrechtskonvention angekündigt hat. Was spricht dagegen?
Theoretisch kann man alles machen, auch renationalisieren und das ganze europäische Asylsystem abschaffen. Der Zuwanderungsdruck aber bleibt. Wir sind gut beraten, auch im Bereich von Migration und Integration an einer regelbasierten Ordnung festzuhalten. Das Ziel muss sein, die humanitäre Orientierung mit einer Steuerung des Migrationswesens zu vereinbaren. Das europäische Asylsystem ist zwar kollabiert, hat aber lange Zeit in diesem Sinne funktioniert. Und es gibt ja Stellschrauben: Ich denke da an Migrationsabkommen und -partnerschaften mit Drittstaaten, mit denen man zu einer geordneten Migration kommt. Schließlich hat Deutschland auch einen hohen Bedarf an Fachkräften.
Bund und Länder haben sich auch darauf geeinigt, Leistungen zu kürzen. Asylbewerber sollen erst nach längerer Zeit Zugang zu vollem Bürgergeld bekommen. Wird Deutschland durch solche Maßnahmen zu einem weniger attraktiven Migrationsziel?
Nein. Wir wissen aus der Forschung, dass Sozialleistungen nicht der entscheidende Faktor sind. Wichtiger sind Sicherheit, wirtschaftliche Stärke, die Möglichkeit, rechtsstaatliche Verfahren zu durchlaufen, und die Aussicht auf Arbeit. Wichtig ist auch immer, ob es schon eine entsprechende herkunftsstaatliche Diaspora gibt, also Communitys, die schon vor Ort sind. Der vereinbarte Wechsel hin zu Analogleistungen und allgemein niedrigeren Leistungssätzen verändert nicht viel. Wer dem Argument der teuren Sozialleistungen die Spitze nehmen will, muss die Menschen schnell in Arbeit bringen.
In der deutschen Debatte wird viel auf die Migrationspolitik Dänemarks verwiesen. Ließen sich hier Elemente kopieren?
Dänemark unterliegt bestimmten Richtlinien des Dublin-Systems nicht, das macht die Lage anders. Dänemark überprüft Aufenthaltsgenehmigungen nach einer gewissen Zeit und schiebt dann auch wieder ab, zum Beispiel nach Syrien, was aber rechtlich sehr umstritten ist. Die ergriffenen Maßnahmen zielen vor allem auf Abschreckung. Und Maßnahmen wie das sogenannte "Schmuckgesetz", dass Besitztümer bis zu einem gewissen Wert abgenommen werden, sind auch nicht die entscheidenden Stellschrauben. Dänemark hat zudem eine Grenze, die sich viel einfacher kontrollieren lässt. Deutschland hat viel größere Grenzbereiche und Grenzregionen und ist auf den Handel im Schengenraum angewiesen. Das ist auch das Argument gegen dauerhafte stationäre Grenzkontrollen.
Mit Hans Vorländer sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de