Lektionen aus der Sowjet-Ära Der Kampf zwischen Putin und Nawalny ist noch nicht zu Ende
18.02.2024, 14:31 Uhr Artikel anhören
Nawalny ist tot, doch sein Vermächtnis lebt weiter.
(Foto: IMAGO/Scanpix)
Die Liste der ermordeten russischen Dissidenten ist lang - mit Nawalny kommt der wohl prominenteste Kämpfer gegen das Putin-Regime hinzu. Das ist mittlerweile brutaler als es die Sowjetunion in den Jahrzehnten nach Stalin war. Den Menschen Nawalny hat Putin getötet. Mit seinem Vermächtnis könnte es anders aussehen.
Wie viele Dinge, die in Putins Russland passieren, kam die offizielle Mitteilung von Alexej Nawalnys Tod sowohl überraschend als auch erwartet. Überraschend, da Nawalny noch am Donnerstag online im Gericht zu sehen war und ausgezehrt, aber nicht sterbenskrank aussah. Erwartet, da alle Gegnerschaft zu Putin und seiner Politik letztendlich im Tod endet. Jetzt ist Alexej Nawalny tot. Egal, was die genaue Todesursache war (die bis jetzt nur vage als ein Sturz beschrieben wird), es steht außer Zweifel, dass der russische Staat die Verantwortung für Nawalnys Tod trägt. Nawalny befand sich in Haft aufgrund von fabrizierten Vorwürfen.
Von den Verurteilungen, die in den letzten Monaten auf ihn herunterprasselten, war eine fadenscheiniger als die andere. Die vielen Gerichtstermine dienten de facto dazu, Nawalnys physischen Niedergang der Weltöffentlichkeit gegenüber zu dokumentieren. Aus dem athletischen, jugendlich wirkenden Mann wurde innerhalb kürzester Zeit ein abgemagerter Gefangener, gezeichnet von den harten Haftbedingungen in russischen Gefängnissen und Lagern. Sein Geist, sein trockener Humor, mit dem er in den sozialen Medien sein Lagerleben beschrieb, und sein Optimismus schienen jedoch ungebrochen. Nawalny war ein unverbesserlicher Optimist und selbst in seinen letzten Posts forderte er seine Anhänger auf, das auch zu sein. "Ich fürchte mich nicht, und Ihr sollt Euch auch nicht fürchten", war eine seiner bekanntesten Nachrichten.

Juliane Fürst forscht in am Leibniz-Institut für Zeithistorische Forschung in Potsdam zur sowjetischen Geschichte.
Nawalny ist nun der letzte Name auf einer langen Liste von zum Teil ungeklärten Todesfällen von verstorbenen Oligarchen, Journalisten, Menschenrechtler, Anwälten, Spionen und politischen Herausforderern. Von Anna Politkowskaja, der tapferen Journalistin der Zeitung "Nowaja Gaseta", die unermüdlich über die von der russischen Armee verübten Kriegsverbrechen in Tschetschenien berichtete, über Boris Beresowski, den emigrierten Oligarchen, der einst mithalf, Putin zum Präsidenten zu machen, bis zum politischen Veteranen Boris Nemzow, der keine drei Schritte vom Kreml entfernt auf der alten Steinbrücke erschossen wurde. Die meisten Namen sind der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Nur eine Handvoll der politischen Morde erregte wirkliches Aufsehen - und dann oft nur, wenn die Attentate im westlichen Ausland geschahen .
Bei weitem nicht alle Morde wurden im Westen wahrgenommen
Wenn es sich um nicht-russische und nicht prominente Opfer handelte, erreichten sie kaum Aufmerksamkeit - und wenn es sich um Angehörige marginalisierter Minderheiten handelte, noch viel weniger. Die Morde und Folterungen an der tschetschenischen LGBTQ-Community sind kaum registriert worden. Die Verschleppungen von krimtatarischen Aktivisten nach 2014 blieb zumeist ohne große Resonanz. Auch der Mord an Hunderttausenden von Ukrainern seit 2014 ist Teil dieser blutigen Geschichte des Putin-Regimes, denn auch sie wurden Putins politischer Idee eines russischen, autokratisch geführten Großreiches geopfert.
Aber selbst wenn man nur auf die Geschichte der politischen Repression schaut, ist Putins Regime schon jetzt um einiges blutiger als das, das in der späten Sowjetunion herrschte - einer Zeit, in der Putin sozialisiert wurde und der er zumindest in Teilen nachtrauert und nacheifert. Das putinsche Modell, das nationalen Stolz, außenpolitische Stärke und einen gewissen Wohlstand im Gegenzug zu einer vollkommen politischen Entmündigung des Einzelnen vorsieht, orientiert sich an der Breschnew-Zeit, in der sowjetischer Patriotismus und soziale Stabilität von der unerbittlichen Unterdrückung aller Andersdenkender ablenkte.
Dissidenten diskutierten und publizierten im Untergrund. Der Staat erklärte sie für schizophren oder kriminell und sperrte sie in Psychiatrie oder Lagerhaft. Prominenten Gegnern wurde entweder die Staatsbürgerschaft entzogen, wie dem Schriftsteller Alexander Solschenizyn, oder sie wurden unter Hausarrest gestellt, wie der Physiker und Erfinder der Wasserstoffbombe, Andrej Sacharow. Der psychische Druck auf alle sowjetischen Bürger war extrem hoch, denn selbst, wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung aktiv Widerstand leistete und ein noch kleinerer Teil dafür belangt wurde, so war doch allen klar, wie eng die Grenzen ihres Handelns gesteckt waren, wie leicht man sich sein Leben mit ein paar kritischen Worten verderben konnte, und wie unbarmherzig der Staat diejenigen behandelte, die sich ihm in den Weg stellten.
Die Erinnerung an die immer mögliche Demontage ist in der russischen Gesellschaft noch aktiv und reguliert das alltägliche politische Leben. Und trotz allem: Nach Stalin bezahlte man seine Kritik am sowjetischen System nur selten mit seinem Leben. Das sowjetische Lager konnte tödlich sein: Der ukrainische Dichter und Dissident Vasyl Stus starb 1985 nach einem Hungerstreik im Lager Perm 36. Der russische Dissident Anatoly Marchenko wurde 1983 bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen und starb im Dezember 1986 in Christopol. In beiden Fällen wurde versucht, die Todesursache zu vertuschen. Generell aber war nach Stalin die Devise, dass der Staat die Persönlichkeit, aber nicht den Körper Andersdenkender zerstören durfte.
Nicht nur Putin hat aus diesen Zeiten gelernt, wie man die Massen still und geduckt hält. Auch Nawalny hatte seine Lehren aus dieser Zeit gezogen. Die Dissidenten der Sowjetunion waren eine kleine, aber erstaunlich potente Gruppe, deren Stärke sich auf verschiedene Faktoren stützte, die Nawalny fünfzig Jahre später bewusst einsetzte. Die sowjetischen Oppositionellen wurden in dem Moment zu einem politischen Faktor, in dem sie sich vernetzten und eine Gemeinschaft bildeten. Anstelle von langen, intellektuellen Pamphleten konzentrierten sie sich auf ein Kerngebiet: die Einhaltung der Menschenrechte, wie sie in der Helsinki-Charta, die auch die Sowjetunion 1975 unterschrieben hatte, definiert wurden. Und sie holten sich die Öffentlichkeit in Form ausländischer Journalisten zur Hilfe. Die westliche Presse war ihr Schutzschild vor der staatlichen Willkür - denn der sowjetische Staat der Achtzigerjahre wollte in der Welt gut dastehen.
Nawalny scharte Gleichgesinnte um sich
Nawalny gelang etwas, was keinem anderen Oppositionspolitiker der Putin-Zeit gelungen ist. Er baute ein starkes und weites Netz von Büros und Mitarbeitern auf, das selbst jetzt noch rudimentär in Russland und im Exil funktioniert. Mit Charme, Witz und Charisma scharte er eine Reihe von jungen und kompetenten Russinnen und Russen um sich, die vor allem eines von ihm lernten: Sie sind nicht alleine, sondern umgeben von einer Menge Gleichgesinnter. Die politische Vereinsamung des einzelnen, auf die sowohl das sowjetische als auch das putinsche Regime setzt, wurde damit durchbrochen. Die schiere Wucht der Nawalny-Organisation führte sicher auch dazu, dass diese sich oft überschätzte, da es von ihrer Warte aus tatsächlich so aussah, als ob Russland kurz davor war, sich gegen Putin zu erheben. Man sah nicht mehr, dass der Großteil der Bevölkerung sich passiv oder gar feindselig gegenüber jeder Kritik an Putin verhielt. Demografisch aber spielte die Zeit in Nawalnys Hände. Er brachte die Jugend auf die Straße. Die Proteste von 2017 wurden praktisch von Schulkindern getragen. Eine Gruppe, die auch Putin gerne unter Kontrolle hätte.
Nawalny sah auch die Vorteile der Bündelung von Kritik. Er identifizierte die unglaubliche Korruption der erweiterten Putin-Clique als das Thema, hinter dem man die verschiedenen und zum Teil einander feindlichen putinkritischen Lager vereinen konnte. Linke, rechte, nationale, kommunistische, alternative, idealistische Kräfte - sie alle wollten eine andere Gerechtigkeit als die des Putin-Staates, in dem ein Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent des Vermögens besitzt. Was sie stattdessen wollten, war nicht ganz so klar. Nawalny selbst verortete sich zwischen liberal und national, mit einem Hintergrund sowohl in der Bürgerrechtspartei Jabloko als auch im nationalistischen Spektrum. Sein Wille zur Sammlung der Kräfte durch Ausblendung problematischer Themenfelder ist nicht unumstritten. Seine rassistischen Aussagen aus den Nullerjahren lassen einen erschaudern. Kritik an seiner "Alle sind willkommen, solange sie gegen Putin sind"-Politik lehnte er immer etwas unwirsch ab.
Das Prisma der Korruption fühlte sich nach Ausbruch voller Kriegshandlungen in der Ukraine 2022 etwas müde an. Was war die Korruption gegenüber der Gewalt, die sich im Nachbarland entfaltete? Nawalny selbst schien seitdem bereit, Themen jenseits der Korruption anzusprechen. Er benannte und verurteilte den imperialistischen Charakter des Krieges, behielt jedoch seinen Optimismus, was die Rolle der russischen Bevölkerung anging. Der Aufstand gegen Putin stand immer noch vor der Tür, glaubte er, auch wenn Hunderttausende von Mobilisierten inzwischen in der Ukraine kämpften und die Umfragen hohe Zustimmungswerte erkennen ließen. Nawalny war zu diesem Zeitpunkt schon inhaftiert.
Kurz nach seiner spektakulären Verhaftung am Flughafen Scheremetjewo in Moskau hatte er noch seinen letzten großen Streich veröffentlicht. Die Offenlegung einer megalomanischen Großbaustelle am Schwarzen Meer - Putins Palast. Der Präsident, der sich selbst gerne als volksnahen, harten Typen darstellt, wurde als Protz entlarvt. Aber die Haft und der Krieg hatten Nawalny auch nachdenklicher gemacht, was die tieferen Faktoren der russischen Malaise angingen. Insbesondere Gewalt und Erniedrigung, die er selbst erfuhr, aber auch die, die in der Ukraine geschah, waren jetzt oft Teil seiner Posts in den sozialen Medien. Der Ton aus der Gefangenschaft war nachdenklicher als der in seinem Blog oder Youtube-Videos.
Die dritte Lektion, die Nawalny von den sowjetischen Dissidenten gelernt hatte, war die Suche nach Öffentlichkeit. Nawalny war ein begnadeter Kommunikator. Und er kommunizierte nach Russland hinein. Bis zu seiner Vergiftung war er dem Ausland wenig zugewandt, teilte wahrscheinlich zumindest in Teilen die Verachtung, die in Russland gegenüber dem Westen, der als zu weich, als zu naiv, als zu oberflächlich empfunden wird, weit verbreitet ist. Aber auch er dachte, dass seine Bekanntheit im Ausland ihn bis zu einem gewissen Punkt schützen würde. Das war sicher Teil des Kalküls, das ihn veranlasste, nach dem Anschlag auf sein Leben, den er nur mit knapper Not überlebte, nach Russland zurückzukehren. Wichtiger jedoch war Nawalnys Unwille, im Exil zu bleiben und wie die vergessenen Menschewiki auf dem "Kehrrichthaufen der Geschichte" zu landen, wie Trotzki es ausgedrückt hatte. In Russland wird Geschichte von denen gemacht, die darum kämpfen, in die Geschichtsbücher zu kommen. Das weiß Putin und das wusste Nawalny.
Putins Regime gleicht einer sich drehenden Turbine
Nawalny nahm den Kampf um die Geschichte gegen Putin an. Und erst einmal scheint er ihn verloren zu haben. Seine Rechnung, dass seine Rückkehr im Januar 2021 eine große Anzahl von Leuten mobilisieren würde, ging nicht auf. Es kamen die, die schon immer auf seinen Kundgebungen waren. Putin war schon auf einem Kurs, auf dem ihm sowohl das Ausland als auch die Meinung der städtischen Mittelschicht, aus der sich die Nawalny-Unterstützer rekrutieren, egal war. Kurze Zeit später ließ er die Ukraine überfallen. Spontane Demonstrationen nach dem 22. Februar 2022 wurden im Keim erstickt. Nawalnys Odyssee durch die russischen Gefängnisse war jetzt nur ein Schicksal von vielen.
Putins Regime gleicht einer sich immer schneller drehenden Turbine. Ungeheuerlichkeiten, die noch vor ein paar Monaten als eine Unmöglichkeit erschienen, werden in immer schnellerer Folge zur neuen Normalität. Als Jewgeni Prigoschin für seinen Aufstand mit dem Leben bezahlen musste, wurde sein Tod in einem Flugzeugabsturz so süffisant kommentiert, dass es praktisch einem Geständnis gleichkam. Es bleibt abzuwarten, welche Details zu Nawalnys Tod öffentlich bekannt gegeben werden. Aber es ist schon jetzt sicher, dass der Rest der Scham, die wenigstens einen Hauch von Rechtsstaatlichkeit aufrechterhielt, im russischen Staat nicht mehr existiert. Mit Sicherheit wird auch jetzt unverblümt gelogen werden. Es ist letztendlich egal, ob Nawalny bewusst umgebracht wurde oder einfach der Lagergewalt zum Opfer fiel. Auch wenn es tatsächlich ein Unfall war, so bleibt es doch dabei, dass Nawalny unter den Augen des russischen Staates und in einer seiner Institutionen, in der er nie hätte sein dürfen, starb.
Unter denen, die ihn unterstützten, herrschen Schock und Niedergeschlagenheit. Der Großteil der Bevölkerung aber wird seinen Tod kaum zur Kenntnis nehmen oder mit den Worten abtun, dass er ja wusste, worauf er sich einließ. So dachte man schon vor fünfzig Jahren über die Dissidenten. Die Schuld liegt bei denen, die etwas riskieren. Der schlaue Bürger hält den Mund und wartet ab. Aber Nawalny starb nicht 1985, sondern 2024. Die Kalkulationen von Putin, der angeblich des Internetsurfens nicht mächtig ist, sind jedoch aus der sowjetischen Vergangenheit. Damals war es möglich, einen Namen aus der Geschichte zu löschen, indem man ihn aus dem Verkehr zog. Aber Nawalny hinterlässt nicht nur einen weltberühmten Namen, sondern auch eine reiche visuelle Hinterlassenschaft. Putin hat sich seines Körpers entledigt. Was seine, nun rein virtuelle, Persönlichkeit Putin in der Zukunft noch antun wird, ist nicht sicher. Aber der Kampf zwischen Nawalny und Putin ist noch nicht zu Ende.
Die Autorin: Dr. Juliane Fürst forscht am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung zur Geschichte des Kommunismus.
Quelle: ntv.de