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"Europa kann sterben" Der große Visionär Macron kämpft ums Überleben

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Noch hat Macron seine Vision von einem autonomen Europa nicht aufgegeben.

Noch hat Macron seine Vision von einem autonomen Europa nicht aufgegeben.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Macrons Rede in der Pariser Sorbonne 2017 war legendär. Er entwarf darin seine Vision einer autonomen EU mit einem gemeinsamen Verteidigungsarm. Knapp sieben Jahre später geht es Frankreichs Präsident zwar immer noch um die europäische Idee, vor allem aber um sein politisches Überleben.

Ein bisschen erinnert Emmanuel Macrons Kampf an den der Europäischen Union. Beide wollen in der Zeit der vielen Krisen Souveränität ausstrahlen, während Rechtspopulisten danach trachten, sie zu stürzen. Doch die EU ist für den französischen Präsidenten viel mehr als eine Schicksalsgefährtin. Ihre potenzielle Stärke ist und bleibt seine Vision, sein Ankerpunkt, ein großer Teil seiner politischen Identität. Das macht Macron bei seiner zweiten Rede in der Pariser Sorbonne klar.

Im September 2017 sprach er schon einmal im prunkvollen Hörsaal der Universität. Mit bestimmtem Ton, kühnen Vorschlägen und glänzenden Augen präsentierte sich Macron damals als begeisterter Europäer. Jetzt resümiert er stolz, dass viele seiner Ideen für ein souveränes Europa in den vergangenen Jahren Realität wurden. So agierte die EU in der Pandemie solidarisch, etwa bei der gemeinsamen Beschaffung von Impfstoffen oder der Etablierung des Corona-Wiederaufbaufonds, der Hunderte Milliarden Euro schwer ist. Auch die von Macron 2017 geforderte gemeinsame Verteidigungspolitik steht seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ganz oben auf der EU-Agenda.

Zugleich warnt Macron eindringlich davor, dass alle europäischen Träume schnell platzen können, falls Rechtspopulisten das Ruder übernehmen. Umfragen prognostizieren in vielen Mitgliedstaaten einen Machtzuwachs der Rechten bei der Europawahl im Juni. Auch Macron kämpft mit seiner liberalen Partei "Renaissance" gegen die in Teilen rechtsextreme "Rassemblement National" unter Marie Le Pen. Mit zwölf Prozentpunkten Vorsprung hat sie beste Chancen, die Europawahl in Frankreich für sich zu entscheiden. "Europa kann sterben. Das hängt einzig und allein von unseren Entscheidungen ab, aber diese Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden", mahnt Macron immer wieder während seiner Rede. Noch aber sei es nicht so weit.

"Unsere Schwäche ist unsere Fragmentierung"

Wichtig sei, sofort auf eine geopolitische Weltlage zu reagieren, in der von Großmächten wie Russland und China "die Spielregeln geändert wurden". Die einzige Chance, sich gegen jene Feinde der demokratischen Ordnung zu behaupten, sieht er in der Weiterentwicklung der gemeinsamen Verteidigung. "Ich lade in den kommenden Monaten alle Partner ein, eine europäische Verteidigungsinitiative aufzubauen", so Macron. Dabei geht er unter anderem auf das Ziel der Europäischen Kommission ein, einen Binnenmarkt für Rüstungsgüter aufzubauen. "Unsere Schwäche ist unsere Fragmentierung", sagt er und spielt damit auf die unterschiedlichen Rüstungssysteme der 27 Mitgliedstaaten an.

Auch beharrt er darauf, mehr Waffen "Made in Europe" herzustellen, um die Abhängigkeit von Zulieferern aus den USA oder Südkorea zu verringern. In den vergangenen Monaten zeigte sich, wie sehr Macron darauf bedacht ist, die heimische Rüstungsproduktion zu stärken. Erst nach langem Zögern schloss sich Frankreich der Initiative Tschechiens an, mit deren Hilfe Hunderttausende Artilleriegranaten für die Ukraine außerhalb der EU beschafft werden sollen. Zuvor beharrte Paris darauf, die Munition bei europäischen Herstellern zu kaufen. Diese kamen jedoch mit der Produktion nicht nach. Für Macron ein klares Zeichen der Schwäche: "Wie können wir unsere Souveränität, unsere Autonomie aufbauen, wenn wir nicht die Verantwortung übernehmen, unsere eigene europäische Verteidigungsindustrie aufzubauen?"

Denn die anderen, vornehmlich China und Russland, rüsteten auf, warnt er. Doch Macron fordert nicht nur mehr Unabhängigkeit von jenen Staaten, die er als Feinde der demokratischen Ordnung einstuft. Auch von den Vereinigten Staaten soll sich Europa sowohl wirtschafts- als auch sicherheitspolitisch lösen, um nicht ihr "Vasall" zu sein. Europas Verteidigung hänge noch immer von den USA ab, kritisiert Macron. Dabei sei die französische Armee, auch aufgrund ihrer Nuklearwaffen, die effizienteste in der EU und daher "besonders wichtig, um die Sicherheit in Europa zu garantieren", behauptet er.

Zwischen Paris und Berlin knirscht es

Ein Hindernis auf dem Weg zur gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik ist die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten ihre Selbstbestimmung diesbezüglich nicht aus der Hand geben wollen, um ihre eigene Souveränität zu wahren. Auch zwischen Frankreich und Deutschland gab es immer wieder Verstimmungen, etwa wenn es um die europäische Strategie für die Unterstützung der Ukraine geht. Macron sorgte vor Kurzem mit der Bemerkung für Aufruhr, dass der Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine nicht ausgeschlossen sei. Solche Überlegungen stoßen bei Bundeskanzler Olaf Scholz auf wenig Begeisterung.

Als weitere Beispiele von Interessenkonflikten nannte Regierungssprecher Steffen Hebestreit unlängst geplante gemeinsame Projekte wie die Entwicklung eines Kampfflugzeuges und eines Kampfpanzers. Auch Macrons Forderung nach einer gemeinsamen Schuldenaufnahme der EU, um die heimische Rüstungsproduktion anzukurbeln, stößt in Berlin auf taube Ohren.

Zugleich sieht sich Macron in der EU Vorwürfen ausgesetzt, die Osteuropäer seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs nicht genügend unterstützt zu haben. So fallen die finanziellen Hilfen Frankreichs für die Ukraine relativ gering aus. Laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft belaufen sie sich auf knapp vier Milliarden Euro, während Deutschland bislang 14,5 Milliarden Euro in die Hand nahm.

Macron wünscht sich "nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland"

Zudem weigerte Macron sich noch lange nach Beginn der russischen Invasion, den Gesprächsfaden zu Präsident Wladimir Putin abreißen zu lassen. Offenbar will er die Hoffnung auf weiteren Kontakt nach Moskau noch immer nicht ganz aufgeben. Das wird deutlich, als er betont, ein europäischer Sicherheitsrahmen, gestützt durch französische Atomwaffen, könne in Zukunft ermöglichen, "nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland aufzubauen".

Hoffentlich vergisst Macron dabei nicht, dass die digitale Desinformation, vor der er am Ende seiner Rede warnt, in Russland viele Finanziers findet. Katalysatoren dieser Falschbehauptungen sind im Internet nicht zuletzt die Rechtspopulisten, die den französischen Präsidenten in Umfragen vor sich hertreiben.

Auch Macron kämpft angesichts dieser Entwicklungen offenbar dagegen an, nicht in Pessimismus zu verfallen. Der Elan, der seine Ansprache in der Sorbonne vor knapp sieben Jahren legendär machte, ist teilweise verflogen. Es sei in diesen Zeiten "schwierig, optimistisch zu sein", sagt Macron. Nur durch klares Denken könnte es den Europäern gelingen, gefährliche Entwicklungen in der Zukunft vorauszusehen und zu reagieren. "Auf jeden Fall kämpfen wir für die Möglichkeit, unsere Zukunft zu wählen", schließt Macron seine Rede.

Quelle: ntv.de

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