Politik

Alles falsch, alles richtig Die vielen Wahrheiten der Flüchtlingskrise

In der Nähe der kroatischen Grenzstadt Tovarnik. Ungarn hält Flüchtlinge aus dem Nachbarland mit einem Zaun, Tränengas und Wasserwerfern von der Einreise ab.

In der Nähe der kroatischen Grenzstadt Tovarnik. Ungarn hält Flüchtlinge aus dem Nachbarland mit einem Zaun, Tränengas und Wasserwerfern von der Einreise ab.

(Foto: Reuters)

Soll Europa seine Grenzen öffnen oder schließen? Sind Flüchtlinge für unsere überalterte Gesellschaft eine Chance oder eine Last? Können die Fluchtursachen beseitigt werden? Ist die EU Teil des Problems oder Teil der Lösung? Einfache Antworten gibt es nicht. Neun "Wahrheiten" im Überblick.

Die Öffnung der Grenzen war richtig

"Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 15. September. Dieser Satz ist das Gegenteil der Realpolitik, für die gerade konservative Regierungschefs normalerweise stehen. Aber was wäre die Alternative gewesen? Hätte Merkel darauf bestehen sollen, dass das Dublin-System gilt, nach denen der erste EU-Staat, in den ein Flüchtling einreist, für den Asylantrag zuständig ist? Am Anfang der Balkan-Route steht Griechenland – ein Staat, der ohnehin hoffnungslos überfordert ist. Ebenso unmöglich war es, die Flüchtlinge in Ungarn ihrem Schicksal zu überlassen. Merkel hat das Richtige getan.

Die Schließung der Grenzen ist richtig

Ein paar Tage nach der Öffnung der Grenzen hat Deutschland das Schengener Abkommen ausgesetzt, also Grenzkontrollen wieder eingeführt. Viel verändert hat sich dadurch nicht – ein Zaun an der Grenze zu Österreich ist, nach allem, was man weiß, bislang nicht geplant. Es handelt sich also vor allem um ein Symbol, wenn man ehrlich ist: um Schikane. Die zynische Wahrheit lautet: Wer die Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge deutlich reduzieren will, wird ohne Stacheldraht nicht auskommen. Der frühere EU-Kommissar und SPD-Politiker Günter Verheugen brachte das bei n-tv auf die Formel: "Die Ungarn machen für uns die Drecksarbeit."

Ungarische Soldaten errichten einen Zaun an der Grenze zu Kroatien - der Zaun zu Serbien ist bereits fertig.

Ungarische Soldaten errichten einen Zaun an der Grenze zu Kroatien - der Zaun zu Serbien ist bereits fertig.

(Foto: dpa)

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán formuliert das naturgemäß anders. Nämlich so: "Die Südgrenzen Bayerns werden heute von Ungarn geschützt." Letztlich ist das auch für Merkel der richtige Weg: Ein Kernpunkt zur Bewältigung der Krise sei der konsequente Schutz der EU-Außengrenzen, sagte die Kanzlerin am Donnerstag im Bundestag.

Die Schließung der Grenzen ist falsch

Dennoch löst ein Zaun keine Probleme – nicht das Problem der Länder, die die Flüchtlinge erreichen wollen, schon gar nicht das Problem der Flüchtlinge. Die Befürworter von mehr Zäunen haben in der Regel Hemmungen, zu sagen, was sie eigentlich wollen: das Problem auf andere Staaten entlang der Flüchtlingsrouten abschieben, auf Länder wie Serbien, Mazedonien oder Griechenland, vor allem auf die unmittelbaren Nachbarn der Herkunftsländer. Im Fall Syriens sind das die Türkei, Jordanien und der Libanon. Zwei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge hat allein die Türkei aufgenommen, im Libanon wurden laut UNHCR 1,1 Millionen Flüchtlinge aus Syrien registriert – bei einer Einwohnerzahl von nur vier Millionen.

Bereits jetzt kann man sich anschauen, wie es aussieht, wenn Europa Zäune baut. Die in Marokko liegenden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sind von sechs Meter hohen Sperranlagen umgeben. Wenn Flüchtlinge diese Absperrung überwinden, werden sie nicht selten von den Knüppeln der spanischen Grenzer empfangen und durch Schleusen gleich wieder zurück nach Marokko verfrachtet. 7500 Menschen haben es im vergangenen Jahr trotzdem auf diesem Weg nach Spanien geschafft. Die offene Frage ist: Will Europa wirklich einen solchen Zaun rings um seine Außengrenzen bauen?

Das Flüchtlingsproblem muss in den Herkunftsstaaten gelöst werden

Der Hauptgrund für die aktuellen Flüchtlingszahlen ist der Bürgerkrieg in Syrien: Nach vier Jahren blutiger Kämpfe schwindet sowohl in den Flüchtlingslagern rings um das Land als auch in Syrien selbst jede Hoffnung. Gleiches gilt für Flüchtlinge aus Ländern wie Eritrea, Afghanistan, Irak, Nigeria: Wer dafür sorgen will, dass sie zu Hause bleiben, muss die Fluchtursachen beseitigen.

Um das in Syrien zu schaffen, will Bundeskanzlerin Merkel mittlerweile sogar mit dem syrischen Diktator Assad reden, an dessen Händen mehr Blut klebt als an denen der Terrormiliz Islamischer Staat. Sie will außerdem mehr Geld für die Flüchtlinge in den syrischen Nachbarstaaten ausgeben und für "nachhaltige Entwicklungsziele". Wie der Krieg in Syrien sind dies lange vernachlässigte Politikfelder, die auf einmal wichtig geworden sind.

In den Herkunftsstaaten kann das Flüchtlingsproblem nicht gelöst werden

Die Fluchtursachen bekämpfen – das ist leichter gesagt als getan. Natürlich hätte die internationale Gemeinschaft die katastrophale Situation in den Flüchtlingslagern längst verbessern können. Aber das gibt den Syrern noch keine Lebensperspektive. Dazu müsste der Krieg in Syrien beendet werden, was derzeit so gut wie unmöglich erscheint.

Ein spanischer Grenzsoldat holt einen Afrikaner vom Zaun, der Melilla von Marokko trennt.

Ein spanischer Grenzsoldat holt einen Afrikaner vom Zaun, der Melilla von Marokko trennt.

(Foto: REUTERS)

Auch die Fluchtursachen in Ländern wie Afghanistan, Pakistan oder vielen afrikanischen Staaten können allein mit Entwicklungshilfe oder dem Einsatz von Soldaten nicht beseitigt werden. Zumal der vom reichen Europa derzeit gern ignorierte Klimawandel die Zahl der Flüchtlinge in den nächsten Jahren und Jahrzehnten steigen lassen wird. Egal, was wir tun: Mehr Flüchtlinge werden kommen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte es in der "Süddeutschen Zeitung" so: "Die traditionelle Unterscheidung zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern ergibt keinen Sinn mehr." Europa müsse alles gleichzeitig tun: "Wirtschaftshilfe, Sicherheitskräfte stärken und Demokratisierung."

Die Flüchtlinge sind eine Chance

Für das von Überalterung bedrohte Deutschland ist die Zuwanderung eine Verjüngungskur. Für die gesamte EU hat die europäische Statistikbehörde errechnet, dass die Flüchtlinge den Bevölkerungsschnitt in der Gemeinschaft um durchschnittlich 6,5 Jahre senken werden. Gerade die Flüchtlinge aus Ländern wie Syrien, die keine Rückkehrperspektive sehen, sind hochmotiviert, sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren. Migranten könnten dazu beitragen, dass sich die Wachstumsperspektiven in Deutschland verbessern, glaubt das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung.

Die Flüchtlinge sind ein Problem

Auch das ist möglich. "Die Asylbewerber sind schlecht für den deutschen Arbeitsmarkt vorbereitet", befindet das Ifo-Institut. Sicher ist, dass die Zahl der Flüchtlinge Probleme offenbart, die von der Politik in den letzten Jahren verursacht oder auf die lange Bank geschoben wurden: Vor allem in den ärmeren Bundesländern wurden Verwaltungen zusammengespart. Polizisten, Lehrer und Wohnungen fehlten vielerorts auch schon vor Beginn der Flüchtlingskrise.

Europa scheitert an der Flüchtlingskrise

Gegen den Widerstand von vier Ländern haben die EU-Innenminister am Dienstag beschlossen, 120.000 Flüchtlinge, die es bereits nach Europa geschafft haben, auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen. Zwei Tage später stellten die Staats- und Regierungschefs eine Milliarde Euro für die humanitäre Versorgung syrischer Flüchtlinge in den Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes zur Verfügung. Der erste Beschluss ist hoch umstritten, beide reichen hinten und vorne nicht. Immer häufiger äußern Politiker die Befürchtung, Europa könne an der Flüchtlingskrise scheitern. Lädiert ist der Ruf schon jetzt. Das Ansehen der Europäischen Union und das Vertrauen in Brüssel habe in den vergangenen Monaten gelitten, schreibt die "New York Times".

Europa ist zentraler Teil der Lösung

Und trotzdem: Ohne Europa geht es auch nicht. "Ziehen Sie unser Geld ab, dann gibt es kein Flüchtlingshilfswerk, dann gibt es keine UN-Agenturen und keine Entwicklungszusammenarbeit", sagt die EU-Außenbeauftragte Mogherini im SZ-Interview. "Auch wenn das nicht mit den Bilder zusammenpasst, die wir gerade sehen: Wir tun sehr viel."

Quelle: ntv.de

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