Politik

Kein Durchbruch, aber Bewegung EU bürstet May ab und visiert Deals an

Jean-Claude Juncker und Theresa May blicken nicht mehr in die gleiche Richtung.

Jean-Claude Juncker und Theresa May blicken nicht mehr in die gleiche Richtung.

(Foto: REUTERS)

Und die EU bewegt sich doch in Salzburg - wenn auch nur in Trippelschritten. Die Brexit-Verhandlungen werden verschoben. In Sachen Migration pfeift Merkel auf Junckers "flexible Solidarität" und baut auf weitere Türkei-Deals.

Die Bundeskanzlerin blickte genervt in die erste Reihe. Zweimal schon musste sie ihr Statement unterbrechen, weil Kameraleute hektisch Kabel durch die Sitzreihen trugen. Jetzt reichte es ihr. Sie hatte ohnehin nicht viel zu sagen zu diesem informellen EU-Gipfel in Salzburg, der noch vor wenigen Monaten als Meilenstein in der Migrationspolitik angekündigt worden war, und doch nur zu einem Zwischenschritt geriet: Das Brexit-Thema wurde aufgeschoben, wenn auch mit einigem Getöse von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Und hinter dem oft beschworenen Paradigmenwechsel im Kampf gegen die illegale Migration stehen zwar weniger, aber immer noch Fragezeichen.

Angela Merkel sichtlich genervt auf dem informellen EU-Gipfel.

Angela Merkel sichtlich genervt auf dem informellen EU-Gipfel.

(Foto: picture alliance/dpa)

"Also dieses eine Mal hab ich noch unterbrochen", sagte Angela Merkel, "wenn das nochmal passiert, bleiben sie einfach ruhig stehen." Dann spulte sie den Rest ihrer Erklärung ab, unaufgeregt wie immer, als hätten die Staats- und Regierungschefs zwei Tage lang über eine neue Regelung für europaweite Pauschalreisen debattiert.

In Wahrheit standen zwei Themen auf der Tagesordnung, die das Projekt Europa ernsthaft gefährden, wie die EU-Spitzen immer wieder betonen: Der Brexit könne in einer "Katastrophe" enden, wenn er falsch vollzogen wird, warnte Ratspräsident Donald Tusk. Und die Migration könne über "Zusammenhalt oder Zerfall" der EU entscheiden, erklärte Merkel selbst vor einigen Wochen. Dafür, dass die Alarmglocken seit Jahren läuten, verkündete die Kanzlerin die Fortschritte auffallend leise. Man musste schon genau hinhören im Mozarteum Salzburg, um zu bemerken, dass sich die EU doch bewegt. Wenn auch in Trippelschritten. Und recht wacklig.

Harmonie in der Mozartstadt

Aus den höchsten EU-Kreisen war viel von Zusammenhalt zu hören in den letzten Wochen. "Wir werden in der Welt niemanden beeindrucken, wenn wir herumlaufen wie ein Hühnerhaufen", sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Gipfel im ORF. Am Donnerstagnachmittag, als er gemeinsam mit Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz und Donald Tusk sein Fazit zog, zeigte er sich zufrieden. "Nützlich" seien die Gespräche gewesen, lobt der Luxemburger. Aus Teilnehmerkreisen war zu hören, dass sie auch harmonischer verliefen als sonst. Keine Anschuldigungen, keine Vorhaltungen, kein "blame game", wie es Donald Tusk ausgedrückt hatte.

Alles andere als eine Selbstverständlichkeit, wenn man eine Woche zurückschaut, auf den Wiener Migrationsgipfel, wo Luxemburgs Jean Asselborn Nerven zeigte und Italiens Innenminister Matteo Salvini anschrie. Und Salvini? Er stellte einen Mitschnitt auf Facebook. Ein Sinnbild für die tiefen Gräben in der Migrationspolitik. Und ein Affront, der bis Salzburg nachwirkte. Er sei "enttäuscht von der österreichischen Ratspräsidentschaft", dass sie Salvini nicht deutlich verurteilt habe, sagte Premierminister Xavier Bettel bei seiner Ankunft. Und, allerdings schon im Scherz: "Ich werde den Italiener gleich mal fragen, ob er filmt."

Günstig für die Gesprächsathmosphäre in Salzburg dürfte sich der Fakt ausgewirkt haben, dass ein informeller Gipfel keine Beschlüsse fällt. Wäre es hart um die Sache gegangen, wären die Gespräche vielleicht noch nützlich gewesen. Aber sicher nicht harmonisch.

Potentielle Aufregerthemen ließen die Regierungs- und Staatsschefs also gleich beiseite, wie die Verteilung von Migranten. Und eine Einigung erzielten sie nur über das, was ohnehin in Grundzügen schon im Juni in Brüssel beschlossen wurde: Frontex wird aufgewertet. Wie genau, klärt sich spätestens auf dem Gipfel im Dezember. Und die Kooperation mit den nordafrikanischen Ländern wird ausgebaut. Wie genau, klärt sich auf mehreren Gipfeln, einer davon im Dezember in Wien. Alles noch wolkig, alles noch vage.

Und auf den ersten Blick nicht neu: Die EU kooperiert seit Jahrzehnten mit Afrika, auch und gerade auf dem Gebiet der Migrationskontrolle. Mit Mitteln aus der Entwicklungshilfe rüstet Brüssel nordafrikanische Grenztruppen aus. Nun soll die Zusammenarbeit aber offenbar auf eine neue Stufe gehoben werden: "Wir brauchen Abkommen, die so gut funktionieren wie mit der Türkei", sagte Merkel. "Nicht nur mit Ägypten, auch Tunesien, Marokko, Libyen." Ein Hinweis darauf, wie die Zukunft der EU-Migrationspolitik aussehen wird: Die Festung Europa, umgeben von einem Cordon Sanitaire aus Türkei-Deals.

Tusk pocht auf "Grand Finale" beim Brexit

Während Merkel in der Salzburger Musikuniversität die leisen Töne wählte, schickten Donald Tusk und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der bereits abgereisten Theresa May ein Paukengewitter hinterher. Die Britin hatte ihre 27 Kollegen am Mittwochabend über den Standpunkt ihrer Regierung informiert, beim Abendessen in einer denkwürdigen Szenerie, die an den War Room in Stanley Kubricks legendärem Film "Dr. Strangelove" erinnerte: Die Staats- und Regierungschefs dinierten auf der Bühne der berühmten Felsenreitschule, an einem riesigen Rundtisch, nur spärlich erleuchtet. Keine zehn Minuten soll May geredet haben, ihr Vorschlag liegt ja ohnehin schon lange auf dem Tisch: der sogenannte Chequers-Plan.

Er dürfte nun Geschichte sein. "Das wird nicht funktionieren", sagte Tusk in seiner Abschlusserklärung, wenig überraschend. Auch die EU schaltet auf stur und will in ganz grundlegenden Punkten nicht einknicken. Der zentrale Streitpunkt: May will alle Vorteile des Binnenmarktes, die EU will keinen Präzedenzfall für Länder wie Norwegen schaffen. "Um im Binnenmarkt zu sein, muss man schon Mitglied sein", machte Tusk deutlich. May deutete Nachbesserungen an, muss diese aber noch den Parteitag ihrer Tories Anfang Oktober boxen.

Erst dann können die Verhandlungen zu Ende geführt werden – in einem Brexit-Sondergipfel am 17. und 18. November, der allerdings nur stattfinden soll, so Tusk, wenn beide Seiten sich im Oktober im "Grand Finale" einig werden. Besonders Frankreich wirbt um eine kompromisslose Haltung. Emmanuel Macron redete sich in seiner Abschluss-Pressekonferenz regelrecht in Rage. Der Brexit sei ein Riesenfehler gewesen, sagte er. "Diejenigen, die in Großbritannien sagen sie könnten ohne Europa leben, das alles gut wird, das sind Lügner."

"Einheit durch Extrawürste"

Im Hintergrund hielt sich der Mann, der die großen Erwartungen an den Salzburger Gipfel erst geweckt hatte: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, derzeit Vorsitzender der Ratspräsidentschaft und selbst ernannter "Brückenbauer". Noch im Juni versprach er "wesentliche Fortschritte in der Migrationsfrage". Die sind vertagt.

Und doch konnte er sichtbare Erfolge verbuchen: Eine Dublin-Reform war kein Thema, die von Kurz vehement bekämpfte Quotenregelung scheint tot. Selbst der einstige Verfechter Jean-Claude Juncker knickte ein und regte eine Taktik an, die man "Einheit durch Extrawürste" nennen könnte, er selber taufte es "flexible Solidarität": Wer keine Migranten aufnehmen will, sagte Juncker vor dem Gipfel, könne seine Solidarität eben mit anderen Mitteln zeigen.

Im Klartext: Juncker plädiert für einen Asyl-Ablasshandel. Einer gefiel dieser Vorschlag aber so gar nicht: Angela Merkel. "Ich kann mit dem Begriff nichts anfangen, und es kann auch nicht sein, dass einige Mitgliedsländer einfach keine Menschen aufnehmen wollen." Vielleicht hat sich die EU tatsächlich mehr bewegt in Salzburg, als es auf den ersten Blick scheint.

Quelle: ntv.de

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