Politik

Schuldenbremse bei "Anne Will" Haseloff in Rage: "Haben wir den Schuss nicht gehört?"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
In ihrer vorletzten Sendung befragt Moderatorin Anne Will ihre Gäste zu Wegen aus der Haushaltskrise.

In ihrer vorletzten Sendung befragt Moderatorin Anne Will ihre Gäste zu Wegen aus der Haushaltskrise.

(Foto: © NDR/Wolfgang Borrs)

Die politische Notlage angesichts des diesjährigen und zukünftigen Haushalts der Bundesregierung beschäftigt auch an diesem Sonntag die Gäste von Anne Will. Wo kann gespart werden? Fehlt es überhaupt an Geld? Und wie sieht die Zukunft der Schuldenbremse aus? Die Diskussion ist lebhaft.

Zwei Minuten und 47 Sekunden. So viel Zeit hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz bislang genommen, um sich angesichts des wegweisenden Grundsatzurteils des Bundesverfassungsgerichts an die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu wenden. Das Video-Statement vom Freitag ist quasi der Teaser für das, was der Sozialdemokrat in seiner Regierungserklärung am Dienstag im Bundestag ausführen wird. Bis dato bleibt jedoch der Eindruck, dass der Regierungschef es nicht vermag, den Menschen in seinem Land die Erklärungen zu liefern, die sie berechtigterweise erwarten.

"Die Verunsicherung ist enorm, bei den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch bei den Unternehmen", sagt die Journalistin Ann-Kathrin Büüsker am Sonntagabend bei "Anne Will". "Ich glaube, den wenigsten Menschen ist klar, was da gerade auf dem Spiel steht." Der Klima- und Transformationsfonds (KTF), der vor anderthalb Wochen durch die Richter in Karlsruhe um 60 Milliarden Euro erleichtert wurde, betreffe viele Lebensbereiche. Unternehmen könnten sich im Moment nicht darauf verlassen, dass die Investitionen, die sie in Deutschland tätigen wollen, auch gefördert werden, sagt die Hauptstadtkorrespondentin des Deutschlandfunks. Das sei ein enormes Problem und die Kommunikation der Regierung ein "Desaster".

Ihre Kollegin Julia Löhr, die in der Talksendung ebenfalls zu Gast ist, stimmt ihr zu. Die Kommunikation sei "grottig". "Wir haben einen Kanzler, der weitgehend schweigt. Einen Wirtschaftsminister, der sich um Kopf und Kragen redet und die Schuld der Union gibt. Und wir haben einen Finanzminister, der hinterher von seiner Pressesprecherin übersetzt werden muss, weil keiner sein Statement verstanden hat", resümiert die Wirtschaftskorrespondentin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Auf das Worst-Case-Szenario - nämlich das vernichtende Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die damit einhergehenden Unwuchten in der Haushaltsplanung - schien niemand in der Regierung vorbereitet gewesen zu sein, sagt Büüsker. "Ich halte das für fahrlässig."

Dass die Regierung kalt erwischt und vom Bundeskanzler zu wenig kommuniziert wurde, dem versucht der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil entgegenzutreten. Scholz werde sich am Dienstag vor denjenigen erklären, die den Haushalt schlussendlich verabschieden werden. Der Vertreter der Ampel-Koalition in der Talk-Runde versucht schnell, den Fokus weg von vergangenen Versäumnissen hin zu Potenzialen der Zukunft zu lenken. Entsprechende Nachfragen von Moderatorin Will wiegelt er entschieden ab. Der Job in der Regierung müsse jetzt sein, zu klären, wie es mit den erwarteten Investitionen weitergehe.

Haseloff: Reputationsschaden verhindern

Auf Bundesebene stellt sich die Union in Sachen Reform der Schuldenbremse im Moment quer. Die Länderchefs wirkten dort zuletzt kompromissbereiter. Mit Reiner Haseloff sitzt ein erfahrener und pragmatischer Vertreter im ARD-Studio. "Es darf nicht sein, dass aus dieser Haushaltsnotlage eine Staatskrise wird", sagt der CDU-Politiker und verweist auf die Landtags- und Kommunalwahlen im nächsten Jahr.

Er hat auch ein besonderes Interesse daran, dass schnell eine Lösung für das Milliardenloch im KTF gefunden wird: In Magdeburg soll eine Chip-Fabrik des Herstellers Intel entstehen und vom Bund mit zehn Milliarden Euro gefördert werden. Er und sein sächsischer Ministerpräsidenten-Kollege Michael Kretschmer hätten von Scholz höchstpersönlich die Zusage bekommen, dass die Projekte in ihren Bundesländern - im sächsischen Dresden lässt sich der taiwanische Halbleiter-Riese TSMC nieder - kommen werden. Alles andere wäre ein Reputationsschaden für Deutschland, der nicht wiedergutzumachen wäre, so Haseloff.

Die Menschen in Sachsen-Anhalt sind als Frühaufsteher bekannt. Da wundert es nicht, dass Haseloff und ihm bekannte Juristen nach eigenen Angaben ein Scheitern des Sondervermögens KTF schon im vergangenen Jahr vorausgesagt haben. Zumindest für dieses Jahr scheint eine schnelle Lösung der Misere vorhanden: Die Bundesregierung erklärt, wie in den Vorjahren, eine Notlage und setzt die Schuldenbremse aus. Für Haseloff ist das ein legitimes Mittel.

Der Ministerpräsident sieht das Land etwa durch die Nachwehen der Corona-Krise, den finanziellen Bedarf der kriegsgebeutelten Ukraine und die Situation im Nahen Osten in einer dauerhaften Notsituation. Das würde den Boden für eine Aussetzung der Schuldenbremse auch im Haushalt 2024 bereiten. Lars Klingbeil sagt grundsätzlich zum Notlagen-Prinzip: "Wenn dieser Weg gegangen werden kann, dann sollte er gegangen werden." Gleichzeitig spricht er sich für eine Reform der Schuldenbremse aus, die staatliche Investitionen in großem Umfang möglich machen soll.

"Ich bin ein großer Fan der Schuldenbremse"

"Wir haben momentan keine außergewöhnliche Notsituation, die sich der Kontrolle des Staates entzieht", sagt dagegen Julia Löhr. Die Energiekrise sei vorbei, die Klimakrise sei eine Generationenaufgabe und kein externer Schock, der plötzlich über Deutschland hereingebrochen kam. Die Regierung müsse daher versuchen, den nächsten Haushalt ohne die entsprechende Klausel glattzuziehen. "Ich bin ein großer Fan der Schuldenbremse." Diese sei das Instrument für die Steuerzahler, darauf zu achten, dass die Politik ihr Steuergeld nicht für unnütze Sachen ausgebe. Und überhaupt: Dass es nicht genügend Geld gebe, um zu investieren, hält die Journalistin für eine "Mär".

Was kann der deutsche Fiskus also tun? Zum einen geht es um Investitionen in die Zukunft, zum anderen um Einsparungen. "Das, was das Bundesverfassungsgericht offenbart, ist, dass sich die Politik ehrlich machen muss", erläutert DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Der Staat - nicht nur die Ampel-Regierung, sondern auch deren Vorgänger - hätte in der Vergangenheit viel Geld verteilt. Die berühmten Sprachbilder "mit vollen Händen" und "Gießkanne" folgen. Durch Karlsruhe habe man registriert, dass nicht einfach durch Sondervermögen am Haushalt vorbei gewirtschaftet werden könne. Die Politik müsse bei ihren Ausgaben Prioritäten setzen - und zwar für die nächsten 10, 15 Jahre, damit Firmen und Bürger eine Planungssicherheit hätten.

In den vergangenen zwei Dekaden habe sich der deutsche Staat kaputtgespart, bilanziert Fratzscher. Die Nettoinvestitionen seien durchgehend negativ. Der Wertverlust bei Infrastruktur wie Straßen übersteige die staatlichen Ausgaben. Die Diskussion um die Schuldenbremse sei daher wichtig. Es müsse zwischen schlechten und guten Schulden unterschieden werden. Es gehe darum, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft langfristig zu verbessern, etwa indem in Bildung investiert wird. Gerade in den Kommunen habe es dafür an Geld gefehlt. Das größte Potenzial sieht der Ökonom darin, Privilegien bei Steuern abzuschaffen. Etwa bei der Erbschaft, Immobilien, Immobiliengewinnen und der Mehrwertsteuer.

Stahlindustrie als unsinnige Branche?

"Es ist einfach eine Mär, dass sich Deutschland kaputtspart", greift die FAZ-Redakteurin Löhr ihre bereits bekannte Abwertung wieder auf. Mit einem jährlichen Haushalt von rund 450 Milliarden Euro und den bekannten Sondervermögen "schwimmen wir im Geld". Es gehe jetzt darum, wo gespart werden könne. Es dürfe keine Subventionsfeuerwerke mehr geben.

Mit einem Einsparziel bringt sie sogleich den SPD-Chef gegen sich auf: den Wegfall von Förderungen für die Transformation der Stahlindustrie. Nicht alle Branchen rechneten sich in Deutschland, das nicht das ideale Land für die Erzeugung erneuerbarer Energien sei, so Löhr. "Wir werden immer Gas oder Wasserstoff brauchen, die wir teuer aus anderen Ländern importieren müssen." Als Anne Will auf die vielen Arbeitnehmer anspielt, die ein Wegfall der Stahlindustrie betreffen würde, entgegnet Löhr, Arbeitslosigkeit sei angesichts von zwei Millionen offenen Stellen in Deutschland nicht das Problem.

Das kann Klingbeil so nicht stehen lassen. "Das sind Arbeitsplätze, das sind Familien." Aus dem russischen Angriffskrieg habe man außerdem doch gelernt, dass es wichtig sei, auf Produktion in Deutschland zu setzen und nicht abhängig von autokratischen Regierungen zu sein. Man könne leicht in einer Talkshow sagen, dass diese und diese Industrie aus Deutschland verschwinden könne, aber das füge dem Land nachhaltigen Schaden zu.

Beim Thema Nutzen von Chip-Fabriken redet sich schließlich Reiner Haseloff in Rage. Nachdem Journalistin Büüsker zu Protokoll gegeben hat, dass lediglich vor Ort Arbeitsplätze und Steuereinnahmen geschaffen, aber die Abhängigkeit von Staaten wie China nicht unbedingt gelöst, die Chips nicht nur sinnvoll eingesetzt werden und überhaupt ökologische Probleme wie versiegeltes Agrarland gegen Milliardenförderungen sprechen, hält der Länderchef einen flammenden Monolog.

"Da geht es doch nicht um ein Stück Acker"

Von der europäischen Ausschreibung, die Magdeburg gewann, hin zu Rüstungsfragen und einem Schutz des Landes durch Halbleiter-Technologie. "Da geht es doch nicht um ein Stück Acker", ruft er empört. Dieser sei ohnehin schon verplant gewesen und er sei froh, dass sich da nicht irgendein Logistikunternehmen, sondern "Hightech" ansiedeln werde. Und damit nicht genug. Haseloff spannt den Bogen zur Bedeutung der EU als Zusammenballung von Demokratien, die auf der Welt ins Hintertreffen geraten würden.

Die Kommunen seien bei der Unterbringung von Geflüchteten am Anschlag, fährt Haseloff fort. Die Diskussion in der Talkrunde sei dagegen auf einer Metaebene, was ihn zu der Feststellung veranlasst: "Haben wir den Schuss nicht gehört, was hier eigentlich los ist auf dieser Welt?" Es gehe um die Ukraine, Nahost und so weiter und so fort. Und dann geht es aus seiner Sicht auch noch ums Bürgergeld, um Fördern und Fordern, um Arbeit vor Alimentation.

Mehr zum Thema

Als endlich Moderation Will einhakt und SPD-Chef Klingbeil ins Boot holt, sagt der nur: "Hier geht ein bisschen was durcheinander." Denn schließlich sei auch das Bürgergeld die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Der Staat müsse den Menschen Sicherheit geben und nicht auch noch Dinge wie das Bürgergeld, das Rentensystem oder die Kindergrundsicherung hinterfragen. "Jeder Minister muss jetzt gucken in einer Situation, wie sie gerade ist, wo kann eingespart werden", sagt Klingbeil.

Will weist auf die von Finanzminister Lindner aufgekündigte Strom- und Gaspreisbremse hin. Damit war der FDP-Chef allerdings ohne Absprache mit den Koalitionspartnern vorgeprescht. Er erwarte schon, dass die Dinge in der Ampel gemeinsam besprochen werden, sagt Klingbeil betont nüchtern. Jetzt sei nicht die Zeit, über Einzelmaßnahmen von Ministern zu sprechen, sondern ein Gesamtpaket zu schnüren. Wenn dies fertig sei, werde es verkündet. Ob Scholz das bereits am Dienstag vor den Abgeordneten des Bundestages machen wird, ist fraglich. Viel Zeit bleibt der Ampel-Koalition jedenfalls nicht mehr. 2024 steht vor der Tür.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen