Politik

Flüchtling in Merkels Heimatstadt Sayed M. hat drei Sorgen

Sayed M. auf dem Marktplatz von Templin.

Sayed M. auf dem Marktplatz von Templin.

(Foto: hvo)

Für Afghanen gibt es keinen legalen Weg nach Deutschland. Wer es dennoch schafft, kann nicht damit rechnen, als asylberechtigt anerkannt zu werden – auch dann nicht, wenn er in Merkels Heimatstadt lebt.

Ob er hier wirklich am Ziel ist, weiß Sayed M. noch immer nicht. Hier, das ist Templin, die "Perle der Uckermark", Heimat von Bundeskanzlerin Angela Merkel, seit ein paar Wochen auch die von Sayed M. Der 22-Jährige kommt aus Afghanistan. Keines der Länder, durch die er auf seiner Reise nach Deutschland gekommen ist, wollte ihn haben. Auch Deutschland könnte ihn ablehnen.

In Afghanistan zu bleiben, kam für seine Familie und ihn nicht infrage. Als Sayed drei Jahre alt war, erschossen radikale Islamisten seinen Vater vor den Augen seiner Mutter. Das war in den 1990er-Jahren, als die Taliban das Land beherrschten. Wenn die letzten westlichen Soldaten abgezogen sind, werden sie die Macht wieder übernehmen, fürchtet er. Schon jetzt würden normale Menschen abends zu Taliban. Mit Mutter und Bruder ging er in den Iran. In Teheran lebte die Familie in der ständigen Angst, ausgewiesen zu werden. Also brachen er und sein Bruder auf, nach Europa.

Merkel muss an Menschen wie Sayed gedacht haben, als sie Ende August in ihrer alljährlichen Sommer-Pressekonferenz über die Gefahren sprach, die Flüchtlinge auf sich nehmen. "Menschen, die sich zum Beispiel aus Eritrea, aus Syrien oder dem Nordirak auf den Weg machen, müssen oft Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich schlichtweg zusammenbrechen ließen." Was Merkel wusste, aber nicht sagte: Diese Ängste und Gefahren sind eine unmittelbare Folge der europäischen Flüchtlingspolitik.

Ein Jahr verbringt Sayed in der Türkei, drei Monate davon im Gefängnis, weil er das Land auf illegalem Wege verlassen wollte – einen anderen Weg gibt es für ihn nicht. Erst viele Monate später, am 23. Juni 2015, seinem Geburtstag, erreicht Sayed Berlin. Er hat Glück – die große Flüchtlingswelle ist noch nicht eingetroffen. Auf dem Bürgersteig schlafen muss er nicht. Die Berliner Behörden schicken ihn ins Erstaufnahmelager nach Eisenhüttenstadt. Wenige Woche später ist er in Templin. Erst kürzlich hat er erfahren, dass sein Bruder, den er in Griechenland aus den Augen verloren hat, ebenfalls in Deutschland ist, im nordrhein-westfälischen Solingen. Demnächst kann er ihn vielleicht besuchen.

"Ich will Menschen helfen"

Sorgen hat er dennoch. Seine Mutter ist krank und noch immer in Teheran. Gelegentlich telefoniert er mit ihr. Meist bricht sie nach ein paar Minuten in Tränen aus. Trotzdem sagt sie ihm bei jedem Gespräch, er solle nach vorn sehen, nicht in die Vergangenheit. Seine Mutter sei, wie die meisten afghanischen Frauen ihres Alters, Analphabetin, ihn aber habe sie zur Schule und auf die Universität geschickt. Sie gebe ihm viel Kraft.

Seine zweite Sorge: Er will so schnell wie möglich Deutsch lernen, studieren, vielleicht Wirtschaftswissenschaften wie schon in Kabul. Im Moment hat er das Gefühl, sein Leben zu verschwenden. Dabei hat Sayed Träume. "Ich will Menschen helfen." Er will, das ist seine größte Sorge, in Deutschland bleiben. Seine Aussichten dafür sind durchwachsen. Die sogenannte Gesamtschutzquote für Afghanen lag zwischen Januar und August bei 43 Prozent. Vor allem Kabul wird vom Bundesamt für Flüchtlinge und Migration als ausreichend sicher angesehen. Abgeschoben werden Afghanen zwar laut Pro Asyl nur vereinzelt. Viele müssen sich in Deutschland allerdings mit einer Duldung begnügen.

Nach den geltenden Regeln hätte Sayed in Griechenland einen Antrag auf Asyl stellen müssen. Stattdessen saß er auch dort in Haft, acht Monate im Abschiebegefängnis von Korinth. Über die Haftbedingungen, die furchtbar sein sollen, spricht er nicht. Er erzählt nur, wie schwer es war, überhaupt nach Griechenland zu kommen. Wie all die anderen Flüchtlinge versuchen er und sein Bruder es mit Schlauchbooten. Doch mal fällt der Motor aus, mal zwingt schlechtes Wetter sie zur Rückkehr, mal werden sie von türkischen Soldaten gestoppt, mal von griechischen Grenzern zurück in türkische Gewässer geschleppt. Diese "Push-Backs" sind eigentlich illegal. Erst beim vierzehnten Versuch sind die beiden Afghanen erfolgreich.

Schläge in Ancona, Lügen in Templin

In der griechischen Hafenstadt Patras versteckt er sich in, auf und unter Lastwagen, die auf die Fähren rollen. Immer wieder wird er entdeckt; es dauert anderthalb Monate, bis er es nach Italien schafft. Die Grenzpolizisten in Ancona empfangen ihn freundlich, sie halten ihn für einen Bulgaren. Ihr Ton ändert sich, als Sayed ihnen sagt, dass er aus Afghanistan kommt. Sie werden wütend, schlagen ihn und verfrachten ihn auf ein Schiff zurück nach Griechenland. Wiederum einen Monat später schafft er es, unter einem Lkw die italienische Hafenstadt Bari zu erreichen. Dieses Mal bleibt er liegen. Erst als der Lastwagen an einer Tankstelle anhält, springt er ab.

In Deutschland hat Sayed mitbekommen, dass die Bundeskanzlerin den Flüchtlingen ein freundliches Gesicht zeigen will. Auch die meisten Templiner, denen er begegnet, sind freundlich. Einmal werden Böller gegen das Heim geworfen, ein anderes Mal rufen Neonazis ein paar Flüchtlingen Drohungen hinterher. Ansonsten bleibt es ruhig. Nur im Internet, in einer geschlossenen Facebookgruppe, der nach Recherchen der Zeitung "Nordkurier" Mitglieder der rechtsextremistischen Szene angehören, wird Hetze verbreitet. Es sind die üblichen Gerüchte über sexuelle Belästigungen in der Nähe des Flüchtlingsheims und über Ladendiebstähle, die angeblich vertuscht würden. Alles Lügen. Der zuständigen Polizeidirektion "sind keine solchen Sachverhalte bekannt", teilt ein Sprecher auf Anfrage mit. Sayed kennt die Lügen, ein Mitglied der Templiner Willkommensinitiative hat ihm davon erzählt. "Wir wollen arbeiten, nicht vom Staat leben!"

"Wir schaffen das", hat die Kanzlerin gesagt, die berühmteste Tochter Templins. Doch einer der Ausdrücke, die Flüchtlinge in Deutschland früh lernen, ist "Bitte warten". Zwei Jahre lang war Sayed unterwegs von Teheran nach Templin. Jetzt will er "ein gutes und effizientes Mitglied der Gesellschaft" werden. "Ich bin schon 22", sagt er. Ihm läuft die Zeit davon.

Quelle: ntv.de

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