Politik

"Hart aber fair" "Sollten asylrechtliche Grundlagen nicht über Bord werfen"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos | Feedback senden
Sollte das Individualrecht auf Asyl durch eine Kontingentlösung ersetzt werden? Darüber sind sich die Gäste de ARD-Sendung nicht einig.

Sollte das Individualrecht auf Asyl durch eine Kontingentlösung ersetzt werden? Darüber sind sich die Gäste de ARD-Sendung nicht einig.

Mit seinem Vorschlag, das Individualrecht auf Asyl abzuschaffen, sorgt CDU-Politiker Thorsten Frei für Aufregung. Bei "Hart aber fair" macht Grünen-Politikerin Cansin Öktürk ihrem Ärger über die Idee Luft. Soziologe Ruud Koopmans macht einen Kompromissvorschlag.

Viele Kommunen in Deutschland haben Probleme, geflüchtete Menschen unterzubringen. Auch mit der Integration klappt es vielerorts nicht. Vor einigen Wochen hat der erste parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, einen Vorschlag gemacht, der seitdem für heftige Diskussionen sorgt. Er will das Individualrecht auf Asyl durch eine Kontingentlösung ersetzen. Eine Antragstellung auf Asyl wäre dann auf europäischem Boden nicht mehr möglich, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten für Asylsuchende ausgeschlossen. Sein Ziel: Die Europäische Union solle jährlich ein Kontingent von 300.000 oder 400.000 Schutzbedürftigen aus dem Ausland aufnehmen und dann gerecht auf die europäischen Länder verteilen. Doch schon in diesem Punkt könnte Freis Vorschlag scheitern, denn Länder wie Ungarn sind zur Aufnahme von Asylsuchenden nicht bereit.

Dennoch sagt Frei am Montagabend in der ARD-Sendung "Hart aber fair": "Die Situation, wie wir sie derzeit haben, ist völlig unbefriedigend, sowohl für jene, die nach Europa kommen, als auch für die Aufnahmegesellschaften in Europa." Das geltende Recht führe dazu, dass ausschließlich die stärksten, die jüngsten und die gesundesten Asylsuchenden nach Europa kämen, sowie jene, die die Schlepper bezahlen könnten, um Europa auf dem Weg über das Mittelmeer zu erreichen. Schwächere blieben zurück.

Ein weiterer wichtiger Punkt für Frei: "Wir können in Europa nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen. Wir werden in diesem Jahr bis zu 350.000 Menschen haben, die in Deutschland Asyl beantragen. Die treffen auf ein Land, in dem etwa 700.000 Wohnungen und etwa 400.000 Kitaplätze fehlen. Zudem können ungefähr 25.000 Lehrerstellen im Jahr 2024 nicht besetzt werden. Im ländlichen Gebiet werden wir auch mit der ärztlichen Versorgung Probleme bekommen." Frei fordert Ordnung, Steuerung und Begrenzung der Migration, "Damit die Gesellschaft und die Kommunen in der Lage sind, die Herausforderungen zu bewältigen sowie Integration zu ermöglichen, um damit Menschen Schutz zu geben."

"Realitätsfremd und nicht umsetzbar"

Fakt ist: Im ersten Halbjahr 2023 ist die Zahl der Flüchtlinge nach Europa im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 78 Prozent angestiegen. Der Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität in Berlin, Ruud Koopmans, geht davon aus, dass Europa das Jahr mit den drittmeisten Asylsuchenden seit 1995 erleben wird. Dazu kommen weiterhin Menschen aus der Ukraine. Koopmans erwartet insgesamt eine Zahl von einer Million geflüchteter Menschen in Europa - allein in diesem Jahr.

Dennoch hält Sozialarbeiterin Cansin Öktürk, die auch Mitglied der Grünen ist, den Vorschlag von Thorsten Frei für "absolut realitätsfern und nicht umsetzbar". Das Recht auf Asyl sei ein Menschenrecht und im Völkerrecht verankert, sagt sie - und hat damit Recht. "Ich verstehe nicht, warum man versucht, an diesem Völkerrecht zu rütteln. Wir haben strukturelle Probleme in der Gesellschaft. Die Lösung ist aber nicht, dass wir weniger Menschen aufnehmen, sondern dass wir an diese Probleme rangehen und nicht die Schuld bei den geflüchteten Menschen suchen."

Öktürk, offensichtlich wütend über den Vorschlag von Frei, fällt dem Politiker ständig ins Wort, was der im Laufe der Sendung auch kritisiert. Möglicherweise hätte sie mehr erreicht, wenn sie sich etwas zurückgenommen hätte. Dennoch ist sie es, die die Diskussion mit Leben füllt, und das ist dringend nötig, denn die ARD hat die Sendung wegen einer Fußball-Übertragung auf Mitternacht verlegt.

"Jedes Menschenleben zählt"

Für Ruhe und Gelassenheit in der Diskussion ist eher Lars Castellucci zuständig. Der SPD-Politiker ist Sprecher der Arbeitsgruppe Migration und Integration der SPD-Bundestagsfraktion. Auch er kritisiert Frei: "Die Union hat noch bis vor zwei Monaten von Ordnung und Humanität gesprochen. Jetzt ist von Humanität nicht mehr die Rede", sagt er. Jedes Menschenleben zähle, man müsse den Menschen helfen, wenn man dies könne. Sein Vorschlag:

Man müsse den Kommunen unter die Arme greifen bei der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen, indem die Bundesregierung zum Beispiel bei der finanziellen Unterstützung von Kitas oder Schulen hilft. Klingt nach einem klugen Plan, an dessen Umsetzung die Ampelkoalition jedoch bisher gescheitert ist. Und an der ist Castelluccis Partei führend beteiligt.

Mehr zum Thema

Am Ende ist es Soziologe Koopmans, der einen Kompromissvorschlag macht. Er stellt fest: Durch den Vorschlag von Thorsten Frei würden nicht weniger Menschen nach Europa kommen. Dennoch findet Koopmans die Idee gut. Doch er sagt: "Schwierig an dem Vorschlag ist, dass man es schaffen muss, trotz der Aufnahme der Kontingente mit anderen Mitteln die irreguläre Migration zurückzudrängen." Dazu brauche es Abkommen mit Drittstaaten. Man müsse mit Ländern wie der Türkei neu verhandeln. "Und das gilt auch für Tunesien, damit sie die Flüchtlinge nicht wieder in die Wüste zurückschicken."

Geflüchtete Menschen müssten die Möglichkeit haben, in diesen Drittstaaten einen Schutzantrag zu stellen. Das müsse das Ziel der Gespräche mit nichteuropäischen Drittstaaten wie Tunesien oder Marokko, aber auch mit Ländern wie Ruanda oder Ghana sein. Anders als Frei ist Koopmans der Überzeugung: "Wir sollten die asylrechtlichen Grundlagen nicht über Bord werfen. Die müssten in diesen Drittländern garantiert werden. Damit könnten wir auch das Sterben im Mittelmeer drastisch reduzieren."

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen