Das Massaker von Babi Jar "Wir mussten die Drecksarbeit machen"
29.09.2016, 07:34 Uhr
Bereits routiniert nach anderen Massakern im Osten: Stundenlang schießen die Einsatztruppen auf Juden in Babi Jar.
Noch Jahre später klagt Kurt Werner vom Sonderkommando 4a: "Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostete, da unten diese schmutzige Arbeit auszuführen." Die Arbeit, die er meint: ein Massaker an 33.771 Juden.
Fast alle sind sie ahnungslos an jenem Morgen von Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag. Mit ihrem wertvollsten Hab und Gut, mit warmen Sachen und Dokumenten versammeln sich Tausende Männer, Frauen und Kinder an einer Straßenecke in Kiew. Seit einigen Monaten herrscht Krieg in der Sowjetunion und nun, an diesem kalten Septembertag 1941, rechnen sie damit, umgesiedelt zu werden. Tatsächlich allerdings werden sie zusammengetrieben zum größten Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg: Innerhalb von 36 Stunden töten Nazi-Einsatztruppen fast 34.000 Menschen in der nahegelegenen Schlucht von Babi Jar.
Zehn Tage zuvor, am 19. September, waren Truppen der 6. Armee in Kiew einmarschiert, gefolgt von mobilen SS-Truppen. Nur eine Woche später trifft sich der Stadtkommandant von Kiew, Generalmajor Kurt Eberhard, mit SS-Führern im sogenannten Zarenschlösschen. Sie beschließen, einen Großteil der Kiewer Juden zu töten, angeblich als "Vergeltung" für vorangegangene Anschläge. Dies soll den Massenmord vor Wehrmachts- und SS-Angehörigen legitimieren.
Zu diesem Zeitpunkt leben noch rund 50.000 der einst 200.000 Juden in Kiew, meist Alte, Kinder und Frauen. Auf Plakaten in Deutsch, Russisch und Ukrainisch werden sie dazu aufgerufen, sich am 29. September um 8 Uhr in der Nähe der Kiewer Friedhöfe zu treffen. "Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen … Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen."
Zur großen Überraschung der Deutschen folgen deutlich mehr Menschen als erwartet dem Aufruf. In Gruppen begeben sie sich, bewacht von Wehrmachtssoldaten, zu der rund zweieinhalb Kilometer entfernten Schlucht. Dort müssen sie ihre Wertsachen und Pässe abgeben, ihre Kleider ausziehen. Dann beginnt das Morden.

Die Juden müssen sich auf die Leichen schon erschossener Menschen legen. Sie werden mit einem Genickschuss getötet - oder ersticken später.
Jahre später beschreibt es Kurt Werner, Mitglied des Sonderkommandos 4a, so vor Gericht in Nürnberg: "Sie mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen von Schützen, mit insgesamt etwa 12 Schützen." Die dann folgenden Juden hätten sich auf die Leichen in der Grube legen müssen. Die Schützen hätten jeweils hinter den Juden gestanden und diese mit Genickschüssen getötet. "Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinuntersehen konnten. Viele Juden haben vor Schreck laut aufgeschrien. Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Nervenkraft es kostete, da unten diese schmutzige Arbeit auszuführen."
Kinder werden in die Grube geworfen
Im Holocaust bringen die Nationalsozialisten rund 6 Millionen europäische Juden um. Allein 3000 Männer von 4 Einsatztruppen und ihre Helfer töten in der Sowjetunion fast 1,5 Millionen Juden. Doch bald gelten Massenerschießungen als "ineffizient", in Vernichtungslagern beginnt der systematische Mord an Millionen Juden.
Die "schmutzige Arbeit" zieht sich über zwei Tage hin. Zwischendurch können sich die Erschießungstrupps am Küchenwagen mit Essen und Schnaps stärken. Die Bilanz ihres Mordens, penibel aufgelistet durch die SS: 33.771 getötete Juden. Die meisten werden erschossen, einige lebend begraben. Besonders bei Kindern spart sich die SS oft die Munition. Sie werden auf die Leichenberge geworfen und mit Erde zugeschüttet. Noch stundenlang sind in der Nacht die Schreie und das Stöhnen der Sterbenden zu hören.
Pioniere der Wehrmacht sprengen anschließend die Ränder der Schlucht, um die Spuren zu verwischen. Eine Woche nach der Tat resümiert die SS: "Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Zwischenfälle haben sich nicht ergeben."
In Babi Jar zeigte sich, was nach dem Krieg gerne in Abrede gestellt wurde: SS und Wehrmacht arbeiteten bei der Ermordung der Juden gelegentlich durchaus gut zusammen. Kurz vor dem Massaker heißt es in einem Bericht der SS nach Berlin: "Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen". Die Arbeitsteilung war aber auch klar: "Wir mussten die Drecksarbeit machen", sagt 1968 vor Gericht SS-Obersturmführer August Häfner. "Ich denke ewig daran, dass der Generalmajor Eberhard in Kiew sagte: 'Schießen müsst ihr!' "
Die fast 34.000 ermordeten Juden bleiben nicht die letzten Toten von Babi Jar. In den folgenden zwei Jahren bringen die Deutschen hier insgesamt bis zu 200.000 Menschen um: Roma, Kriegsgefangene, psychisch Kranke, Partisanen, ukrainische Nationalisten und weitere Juden aus der Kiewer Umgebung.
"Enterdungsaktion" soll Massaker vertuschen
Doch das Massaker soll nach dem Wunsch der NS-Führung - wie auch die industrielle Massenvernichtung in den Lagern, auf die in den späteren Kriegsjahren zurückgegriffen wird - ein Geheimnis bleiben. Mit dem Rückzug der Wehrmacht aus der Sowjetunion entschließt man sich daher 1943 in Berlin, alle Beweise für die Verbrechen im Osten zu beseitigen. SS-Standartenführer Paul Blobel kehrt mit dem Sonderkommando 1005 nach Babi Jar zurück und beginnt die sogenannte "Enterdungsaktion". 300 Gefangene aus dem nahegelegenen KZ Syrez graben in einer "geheimen Reichssache" vier Wochen lang rund 40.000 bis 45.000 Leichen aus. Auf Scheiterhaufen verbrennen sie die Toten mit in Benzin getränkten Eisenbahnschwellen, die verbliebenen Knochen werden zu Staub zermahlen.
Doch alle Vertuschung ist vergeblich. Einige Juden überleben wie durch ein Wunder das Massaker und die "Enterdungsasaktion" und können Zeugnis ablegen von den Verbrechen. Vor Gericht in Nürnberg wird Blobel zum Tod durch den Strang verurteilt und 1951 in Landsberg gehängt. Acht weitere Angehörige des Sonderkommandos 4a müssen 1968 wegen "gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an 33.771 Personen" Haftstrafen absitzen. Offiziere der Wehrmacht werden wegen des Massakers nicht vor Gericht belangt.
Quelle: ntv.de