Person der Woche: der FDP-Chef Lässt Lindner die Ampelkoalition platzen?
21.11.2023, 12:43 Uhr Artikel anhören
In der Bundesregierung braut sich etwas zusammen. Das Karlsruher Urteil stürzt die Koalition in eine akute Haushaltskrise. Anders als SPD und Grüne fordert FDP-Chef Lindner, nur mit dem verbliebenen Geld zu wirtschaften. Manches erinnert an Genscher 1982, der SPD-Kanzler Schmidt die Koalition aufkündigte.
Die Ampel-Koalition steht vor einer dramatischen Zerreißprobe. In Berlin mehren sich die Hinweise, dass die FDP die Regierungsbeteiligung zeitnah infrage stellt, falls Grüne und SPD nicht zu einer grundlegenden Wende in der Finanzpolitik bereit seien. Als Warnschuss verfügt Bundesfinanzminister Christian Lindner bereits eine Haushaltssperre auf nahezu den gesamten Bundeshaushalt für das Jahr 2023. Aus der FDP-Bundestagsfraktion ist zu hören, dass die Chancen auf das Ende der Koalition "noch in diesem Winter" geradezu "stündlich steigen".
Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Haushaltsmanöver der Ampel gekippt hat, ist ein Grundsatzdissens ausgebrochen. SPD und Grüne wollen über Steuererhöhungen, neue Kredite und ein Aussetzen der Schuldenbremse neues Geld für ihre Ausgabenpläne besorgen. So sagte der grüne Vize-Kanzler Robert Habeck: "Also müssen wir das Geld an anderer Stelle finden beziehungsweise aufbringen." Die FDP will genau das nicht. Für Lindner sind bestimmte Leitplanken unverhandelbar: "einerseits die Schuldenbremse, bei der wir neue Rechtsklarheit haben, andererseits der Verzicht auf Steuererhöhungen." Wechselseitige Vorwürfe kochen bereits hoch, der Ton wird schärfer.
Aber anders als in früheren Streitlagen der Koalition geht es diesmal nicht um ein Einzelgesetz, sondern um den Masterplan der Ampelpolitik - und die FDP scheint fest entschlossen, hart zu bleiben.
"Wir haben kein Einnahmeproblem"
Lindner spricht in bitterernsten Tonfall von einem Wendepunkt der bundesrepublikanischen Geschichte. Man brauche für die Staatsfinanzen einen ehrlichen "Neustart", es sei Zeit "für neue Realpolitik": "Wir werden mit weniger Geld wirksamere Politik machen müssen als im vergangenen Jahrzehnt", ermahnte Lindner via X. "Wir haben kein Einnahmeproblem, sondern wir haben ein Problem damit, schon seit vielen Jahren Prioritäten zu setzen." Er empfiehlt eine Staatsreform hin zu weniger Bürokratie, agiler Verwaltung, Technikfreundlichkeit und der Mobilisierung privaten Kapitals für Investitionen. "Jetzt muss jeder einsehen, dass auch immer weiter steigende Erwartungen an den Staat nicht erfüllt werden können." Das aber steht diametral zum Politikverständnis von SPD und Grünen.
Die Lage wird dadurch verschärft, dass wahrscheinlich auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (und damit die Strom- und Energiepreisbremsen) einer Verfassungsprüfung nicht Stand hält. Sogar der laufende Haushalt muss wahrscheinlich völlig neu und drastisch sparsamer geschrieben werden. Der Bundesrechnungshof hat bereits erklärt, dass er nach dem Karlsruher Haushaltsurteil die Bundeshaushalte für dieses und das kommende Jahr "in verfassungsrechtlicher Hinsicht für äußerst problematisch" halte.
Die Haushaltskrise verschärft die ohnedies labile Lage der Ampelkoalition. Denn schon die Migrations- und Wirtschaftskrise bekommt die Regierung nicht in den Griff - zu weit gehen die Zielvorstellungen insbesondere von FDP und Grünen auseinander.
Westerwelle vor Augen
Innerlich zerrüttet, offen zerstritten und unter miserablen Umfragewerte leidend wankt die Koalition damit einem finalen Bruch entgegen. Schon bei der Europawahl droht den Ampelparteien ein Desaster, die AfD könnte gar zur stärksten Partei aufsteigen. Das Kanzlerkonzept des leisen Durchwurschtelns dürfte diesmal nicht verfangen, weil die Haushaltskrise harte Konsequenzen erzwingt. Und: Die Stimmung bei den Liberalen ist nicht nur nervös oder enttäuscht, sie ist zusehends wütend, denn es geht ums politische Überleben der FDP.
Bislang konnte die FDP der eigenen Wählerschaft kaum lauwarm erklären, man habe hier und da Schlimmeres verhindert. Nun aber muss die Partei in der großen Fundamentalfrage Standhaftigkeit beweisen, um ihre Glaubwürdigkeit zu retten.
Lindner und seine Parteifreunde haben das FDP-Trauma mit Guido Westerwelle noch vor Augen. Westerwelle musste nach nur einer Legislatur den FDP-Absturz vom Rekordergebnis 2009 (14,6 Prozent) zum Rauswurf aus dem Bundestag 2013 verantworten, weil er der Bundespolitik kein liberales Profil verleihen konnte und sich enttäuschte Bürgerliche am Ende wieder hinter der CDU versammelten. Das wird Lindner unbedingt vermeiden wollen.
Lambsdorff-Papier als Blaupause
Und so bäumt sich in der FDP jetzt das große Narrativ von der "Genscher-Wende" auf. Immer mehr Liberale empfehlen Lindner, nicht wie Westerwelle blind in den Untergang zu laufen, sondern wie Hans-Dietrich Genscher 1982 die Regierung vorzeitig platzen zu lassen. Genscher kündigte dem damaligen SPD-Kanzler Helmut Schmidt die Gefolgschaft auf, weil der sich gegen seinen linken Parteiflügel kaum mehr durchsetzen konnte, Deutschland als Wirtschaftsstandort in einer Energiekrise schwer litt und die Staatsfinanzen aus dem Ruder liefen. Die Verhältnisse ähneln sich. Die Haushaltskrise könnte daher genau das bewirken - dass Lindner nicht den Westerwelle, sondern den Genscher macht und die unbeliebte Koalition in einer trüben Dezember-Stimmung bald platzen lässt.
Es war genau am 5. Dezember 1982 als Genscher seinen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff das berühmte Papier "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" veröffentlichen ließ. Er wurde zum Scheidungsbrief der sozialliberalen Ära. Lambsdorff Schrift könnte heute geradezu als Blaupause für Lindner herhalten, denn er forderte solide Staatsfinanzen, weniger Schulden, eine strikte Haushaltskonsolidierung, Umschichtung öffentlicher Ausgaben, mehr Handlungsspielraum für die Privatwirtschaft sowie eine "relative Verbilligung des Faktors Arbeit". Es war eine Provokation für die Sozialdemokratie - so wie die jetzigen Einlassungen "für eine neue Realpolitik" von Lindner.
Quelle: ntv.de