Ökonom für andere Reformen "Griechenland bleibt auf der Intensivstation"
23.07.2015, 19:31 Uhr
"Die aktuelle Ruhe ist nur eine Pause zum Aufladen der Akkus", sagt Jens Bastian.
(Foto: AP)
Dass Athen "seine Hausaufgaben nicht gemacht hat", will Jens Bastian nicht unterschreiben. Das jahrelange Mitglied der EU-Task-Force hat in den vergangenen Jahren viele Fortschritte gesehen. Die jetzt geplanten Maßnahmen sind dem Ökonomen zu steuerlastig.
n-tv.de: Werden die jetzt von Athen anvisierten Maßnahmen Griechenland auf den richtigen Weg führen - oder sehen wir nur die Fortsetzung einer gescheiterten Rettungspolitik?
Jens Bastian: Der Kompromiss, der zwischen internationalen Gläubigern und Athen gefunden worden ist, wirft aus meiner Sicht in der Substanz mehr Fragen auf, als er beantwortet. Mit Blick auf eine Strukturreformpolitik sind einige Vorhaben durchaus wichtig, etwa die Liberalisierung geschlossener Berufe, die Kappung der Frühverrentung oder die Besteuerung bestimmter Berufsgruppen wie Landwirte und Reeder.
Auf der anderen Seite ist das jetzige Programm sehr steuerlastig. So wird die Mehrwertsteuererhöhung zu Realeinkommensverlusten führen. Die höhere Unternehmensbesteuerung verbessert nicht gerade die Investitionsfähigkeit, insbesondere vor dem Hintergrund einer bereits sechs Jahre währenden Krise. Mitten in der Hochsaison steigt zudem in der Restaurant-Wirtschaft die Mehrwertsteuer von bisher 13 Prozent auf nunmehr 23 Prozent. Das wird sich im Tourismussektor höchstwahrscheinlich auch auf die Auslastung niederschlagen. Ich hätte mir gewünscht, dass stattdessen die Steuervermeidungen stärker bekämpft werden würden.
Befürchten Sie einen weiteren Anstieg der Steuervermeidungen?

Jens Bastian war bis Ende 2013 Mitglied der "Task Force for Greece" der Europäischen Kommission. Heute ist der Ökonom freier Wirtschaftsberater beim Thinktank "MacroPolis". Er lebt seit über 15 Jahren in Athen.
Ich fürchte tatsächlich, dass das zunächst einmal kontraproduktiv sein wird. An dem getroffenen Kompromiss gefällt mir aber, dass nach fünf Jahren Krisenmanagement zum ersten Mal eine Investitions- und Beschäftigungsperspektive geschaffen wird - mit Hilfe der 35 Milliarden Euro, die Griechenland zur Verfügung gestellt werden. Das ist kein zusätzliches Geld, sondern hauptsächlich eine gestaffelte Vorauszahlung aus vorhandenen EU-Strukturmitteln, ergänzt durch die Europäische Investitionsbank.
Stimmt es, dass Griechenland diese Mittel bislang kaum abrufen konnte, weil ihnen der Eigenanteil fehlte?
Das ist nicht ganz korrekt. Griechenland hat, unter anderem auch mit Hilfe der sogenannten Task Force der Europäischen Kommission in den vergangenen drei Jahren sehr gute Erfolge erzielt, was die sogenannte Absorbtionsfähigkeit vorhandener EU-Strukturmittel betrifft. Zumindest ist das unter der Vorgängerregierung gelungen. Griechenland hat Ende 2014 knapp 86 Prozent aller seiner EU-Strukturfördermittel abgerufen.
Aber auch den Vorgängerregierungen wird immer wieder vorgeworfen, nicht genug geleistet zu haben, um das Land voranzubringen. Teilen Sie diese Kritik?
Was ich nicht teile, ist die Rhetorik, die ich zuweilen aus Berlin oder München vernehme, dass Griechenland seine Hausaufgaben machen müsse oder das Griechenland "liefern" müsse. Das unterstellt, dass in den vergangenen fünf Jahren in Griechenland nichts passiert sei. Genau das Gegenteil ist der Fall. Es ist sehr vieles passiert, aber es ist oft nicht in die richtige Richtung gegangen. Das betrifft Regierungen unterschiedlichster Couleur. Das Problem fängt damit an, dass wir in Griechenland keine positive Besetzung des Reformbegriffs haben. Wir haben auch keinen gesellschaftlichen Dialog, warum diese Reformen im eigenen Interesse notwendig sind. Der Reformbegriff ist durch die Tätigkeit der Troika, der EU-Institutionen, vorbelastet. Denn diese haben in den vergangenen Jahren Reformen oft in einer Buchhalter-Mentalität umgesetzt.
Hier ist grundsätzlich etwas falsch gelaufen. Wir haben uns viel zu sehr auf das Sparen konzentriert. Bei den Sparvorgaben hat Griechenland tatsächlich bis 2014 beeindruckende Erfolge erzielt. Auch was den Abbau des Leistungsbilanzdefizits betrifft. Aber wir haben gleichzeitig eine kontinuierlich steigende Massenarbeitslosigkeit, eine jahrelange Unterversorgung der griechischen Realwirtschaft mit Krediten und seit über zwei Jahren eine Deflationsentwicklung. Wir haben eine wachsende Schere zwischen der Jahresleistung der Wirtschaft des Landes auf der einen Seite und der steigenden Staatsverschuldung auf der anderen.
Sie sagten, der Reform-Begriff sei negativ besetzt. Daraus erklärt sich auch die überwältigende Mehrheit gegen das Sparprogramm beim Referendum. War die Abstimmung angesichts der Kehrtwende der Regierung vergebens?
Am Ausgang des Referendums mit der hohen Zustimmung für die Regierung Tsipras und dem, was sich seither getan hat an verschiedenen Gesetzespaketen, können Sie die ganze Zerrissenheit der griechischen Gesellschaft und Politik ablesen. Auf der einen Seite die Ablehnung einer von außen auferlegten Reform, auf der anderen Seite ein klares Festhalten der Mehrheit der griechischen Gesellschaft am Euro. Sogar die Oppositionsparteien - mit Ausnahme der Kommunisten und der Neofaschisten, der "goldenen Morgenröte" - sind heute bereit, die griechische Regierung bei einem Gesetzespaket zu unterstützen, von dem die Regierung selbst nicht überzeugt ist.
Wie lange wird Griechenland selbst im günstigsten Fall brauchen, um wieder stabil zu sein?
Wir reden seit fünf Jahren mit Blick auf Griechenland über Krisenmanagement und Rettungsprogramme. Griechenland ist ein Land, das auf der Intensivstation bleiben wird. Sowohl was die politische Stabilität des Landes angeht – wir diskutieren bereits über Neuwahlen im Herbst – als auch die Stabilität des Bankensektors. Auch wenn die Landesinstitute wieder geöffnet haben, sind die Kapitalverkehrskontrollen weiter in Kraft. Das bedeutet massive Einschränkungen für private Haushalte und Unternehmen. Griechenland wird zudem auch in Zukunft nicht so schnell einen Zugang zum Kapitalmarkt bekommen.
Was ist mit der "Grexit"-Diskussion?
Die wird weiter die Agenda bestimmen, genau wie der Vorschlag eines temporären Ausstiegs von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Das führt dazu, dass Investitionen zurückgehalten werden. Gleichzeitig gibt es durchaus interessante Investitionsperspektiven aus dem Ausland, nehmen wir nur das Beispiel Fraport. Diese werden allerdings politisch blockiert, weil es der Regierung an dem Willen fehlt, dies zeitnah umzusetzen.
Das macht nicht viel Hoffnung für die Zukunft, gerade für die jüngeren Generationen. Wird die Abwanderung hier noch zunehmen?
Die Jugend hat bereits in den vergangenen Jahren unter unterschiedlichen Regierungen mit den Füßen abgestimmt. Die Desillusionierung in der Gesellschaft setzt sich fort. Die Arbeitslosigkeit der 18- bis 25-Jährigen ist die höchste in der Euro-Zone. Die Situation der Universitäten ermuntert die Abiturienten auch nicht dazu, zu bleiben. Am Ende des Tages geht es darum, ob diese junge Generation für sich eine realwirtschaftliche Perspektive sieht, um gute Gründe zum Bleiben oder Wiederkommen zu haben. Wir beobachten ja nicht nur eine Abwanderung, sondern auch die Unfähigkeit der Griechen in der Diaspora zurückzukehren. Das sagt im Grunde alles über die Möglichkeiten einer realwirtschaftlichen Erholung des Landes aus.
Mit Jens Bastian sprach Samira Lazarovic
Quelle: ntv.de