Wirtschaft

Millionen Arbeitsplätze bedroht Studie: Gasstopp könnte zwölf Prozent des BIP vernichten

Mitte Juni drosselt Russland erstmals seine Gaslieferungen an Deutschland. Sollte der Kreml die Versorgung vollständig einstellen, drohen der deutschen Wirtschaft katastrophale Konsequenzen. Für energieintensive Betriebe ist Deutschland damit als Standort plötzlich unattraktiv.

Deutschland würde mehreren Studien zufolge besonders stark unter einem abrupten Stopp russischer Gaslieferungen leiden. Ein Gasstopp könnte 12,7 Prozent der Wirtschaftsleistung kosten, geht aus einer Studie im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) hervor. Die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt wären demnach verheerend: "Insgesamt wären rechnerisch etwa 5,6 Millionen Arbeitsplätze von den Folgen betroffen", sagte VBW-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.

Besonders bedroht sind demzufolge Branchen wie die Glasindustrie oder die Stahlverarbeitung. "Dort müssen wir davon ausgehen, dass die Wertschöpfung um fast 50 Prozent zurückgeht", sagte Brossardt für den Fall ein Gasstopps. "Ähnliches gilt für die Chemie-, Keramik-, Nahrungsmittel- und Textilbranche sowie das Druckereiwesen. Hier liegen die Wertschöpfungsverluste bei über 30 Prozent."

Ursache ist dem VBW zufolge, dass Gasspeicher bei der Lieferung gegenüber der Industrie bevorzugt würden, weil sie gesetzlich festgelegte Mindestmengen enthalten müssen. Auch private Haushalte und Einrichtungen wie Krankenhäuser genießen bei der Versorgung Vorrang. Sollte es zu einem Gasstopp kommen, würde der Bedarf der Industrie demnach nicht einmal zur Hälfte gedeckt werden.

Industriestandort Deutschland wird unattraktiv

Deutschland verliert durch die Abhängigkeit von Russland bei der Energieversorgung aber auch ohne Gasstopp an Wettbewerbsfähigkeit. Das Mannheimer Forschungszentrum ZEW kommt in einer weiteren Studie zu dem Schluss, dass die Energiepreise seit Kriegsbeginn vor allem in Deutschland und in den Niederlanden gestiegen sind. Die Preisanstiege in den USA und Kanada seien moderater, heißt es. In Japan seien keine Effekte wahrzunehmen.

In Europa sei die Lage in Frankreich wegen der besonderen Bedeutung der Atomkraft und in der Schweiz wegen der Wasserkraft wesentlich besser, geht weiter aus der Studie hervor. In EU-Staaten wie Österreich, Finnland, Ungarn, der Slowakei und Tschechien sei die Abhängigkeit von Russland zwar noch größer. Ihr Energiebedarf sei aber insgesamt kleiner und damit leichter zu ersetzen als in Deutschland oder den Niederlanden. Gerade für energieintensive Betriebe wird Deutschland damit unattraktiver, lautet das Fazit der Untersuchung.

Beschaffungskosten an Verbraucher weitergeben

Auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), das Münchner Ifo-Institut, das Essener RWI und das IWH Halle zeichnen ein düsteres Bild. Sollte es zu einem sofortigen Lieferstopp kommen, ergebe sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent im kommenden Jahr eine Gaslücke von mindestens 23,8 Terawattstunden (TWh) - "im sehr unwahrscheinlichen schlechtesten Fall fehlen sogar fast 160 TWh". Durch den daraus resultierenden Produktionsausfall in den gasintensiven Industrien und ihren unmittelbaren Abnehmern käme es zu einem Wertschöpfungsverlust von rund 46 Milliarden Euro, der im schlimmsten Fall auf 283 Milliarden steigen könnte. Das entspricht 1,6 beziehungsweise 9,9 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung von 2021.

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Es sei durchaus erforderlich, die gestiegenen Beschaffungskosten der Unternehmen zeitnah an Verbraucher weiterzugeben, meinen die Institute. "Denn dann sinkt der Energieverbrauch." Da höhere Preise bereits einen starken Anreiz für Einsparungen lieferten, seien zusätzliche staatliche Prämien nicht notwendig. Stattdessen sollten bedürftige Haushalte durch gezielte Transfers unterstützt werden.

"Die gesamtwirtschaftlichen Einbußen dürften noch deutlich größer ausfallen, da die unmittelbaren Effekte noch konjunkturell verstärkt würden", warnen die Ökonomen. "Außerdem würden den Haushalten infolge höherer Energiepreise Kaufkraft entzogen." In einer vorherigen Analyse im April hatten die Institute den gesamtwirtschaftlichen Effekt gut dreimal so hoch eingeschätzt wie jenen auf unmittelbar betroffene Industrien.

Quelle: ntv.de, chr/rts

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