Mumien im CT 300 Jahre alte Föten geröntgt
16.09.2009, 16:40 Uhr
"Früher hat man Mumien ausgewickelt und zersägt. Dank des CT können wir sie komplett erhalten und erfahren dennoch alle Details."
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Gerade noch hatte Ralf Löschhorn einen Notfall, doch beim nächsten "Patienten" bleibt dem Oberarzt in der Radiologie mehr Zeit. Geduldig lässt er sich von Löschhorn in den Computertomographen schieben, und im Unterschied zu anderen Patienten bewegt er sich auch nicht. Kein Wunder - er ist seit drei Jahrhunderten tot. In Kassel wurden jetzt die Mumien von fünf Föten mit moderner medizinischer Technik untersucht. Die Wissenschaftler erhoffen sich daraus Rückschlüsse auf Leben und Leiden in der Barockzeit.
Mumifizierung mit Zucker?
Über die fünf mumifizierten Frühgeburten weiß man fast nichts. "Wir sind uns noch nicht einmal sicher, wie alt die Mumien sind", sagt Kai Füldner, Direktor des Naturkundemuseums Ottoneum. "Wahrscheinlich ist ein Zeitraum zwischen 1700 und 1730, weil man vorher kaum mumifiziert und hinterher in Alkohol eingelegt hat." Klar ist nur, dass die Präparate Anschauungsobjekte für Studenten waren. "Dann müssen sie in unser Depot gekommen und irgendwie hinten in die letzte Ecke gekrempelt worden sein. Wir haben sie erst vor drei Jahren entdeckt."
"Wir wissen auch nicht, wie die Körper mumifiziert wurden", sagt Wilfried Rosendahl, Leiter des "German Mummy Project". "Weil sie so stark getrocknet sind, vermuteten wir sie als Salzmumien. Wir fanden auch kristalline Spuren, aber nicht Salz." Jetzt vermutet der Mannheimer Wissenschaftler eine seltenere Methode, Körper haltbar zu machen: "Zucker! Zuweilen hat man damals auch eine Zuckerlösung benutzt." Wann genau dieses "damals" war, weiß aber auch er nicht: "Wir haben es mit der bewährten Radiokarbonmethode versucht und kamen auf 1000 Jahre. Unmöglich! Aber leider verfälschen Verschmutzungen immer wieder solche Untersuchungen."
"Kassel I" bis "Kassel V" heißen die fünf Jungen und Mädchen. Die Totgeburten lebten nur bis zur 30. bis 40. Schwangerschaftswoche. Zusammengekrümmt liegen sie in der Radiologie, braungrau und so filigran, als würden sie gleich zu Staub zerfallen. Bei "Kassel III" liegt die Wirbelsäule offen, bei "Kassel I" ist der Schädel nicht geschlossen und "Kassel V" besteht sogar nur aus einem Kinderkopf, der geöffnet und präpariert wurde. Alles für die Wissenschaft, heute wie vor 300 Jahren.
"Man wird berührt"
"Die Aufnahmen sind brillant. Aber allein daraus können wir sicher keine Krankengeschichte erstellen", sagt Oberarzt Löschhorn. Die 124 Bilder, die sich auf seinem Bildschirm zu einem plastischen Modell zusammensetzen, sagen dem Arzt dennoch einiges. "Klares Bild vom Skelett, Schädelknochen offen, muss nicht zu Lebzeiten passiert sein", murmelt der Mediziner mehr zu sich selbst. Mumienforscher Rosendahl lässt den Bildschirm nicht aus den Augen. "Früher hat man Mumien ausgewickelt und zersägt. Dank des CT können wir sie komplett erhalten und erfahren dennoch alle Details." Denn auch eine 300 Jahre alte Leiche könne erzählen: "Wir können nicht nur Knochen, sondern auch Weichteile untersuchen. Wie haben die Menschen gelebt, wie gelitten? Welche Krankheiten hatten sie? Was haben sie gegessen und haben sie Drogen genommen? All das können sie uns erzählen."
Im November sollen die Kasseler Mumien im Ottoneum zu sehen sein, zusammen mit gut 50 anderen Mumien, darunter auch Tieren, aus allen Teilen der Welt. Im nächsten Jahr geht die Ausstellung in die USA. "Es ist mehr als Wissenschaft, man wird auch berührt", sagt Füldner, plötzlich sehr nachdenklich. "Da ist eine 1000 Jahre alte Mumie und man sieht heute noch: Das war eine schöne Frau." Und auch die fünf Frühgeburten: "Wie enttäuscht müssen die Eltern gewesen sein? Aber wir wissen ja noch nicht einmal, ob die Mutter die Geburt überlebt hat."
Quelle: ntv.de, Von Chris Melzer, dpa