"Wie die Lava eines Vulkans" Jähzorn: das Tier in uns
09.04.2012, 08:59 Uhr
Eher selten: ein Wutausbruch vor den Augen von Milliarden von Menschen. Die meisten toben ihre Anfälle im Familienkreis aus.
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Der Schweizer Psychotherapeut Theodor Itten untersuchte in einer Studie das Jähzorn-Potenzial der Gesellschaft. Mehr als ein Viertel aller Menschen ist demnach betroffen, rund 70 Prozent der "Täter" toben ihre Anfälle im Familienkreis aus. Oft kommen die, die unter jähzornigen Menschen leiden, als erste zum Therapeuten.
Zinédine Zidane, im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006: Die Welt sitzt vor dem Fernseher, Milliarden Menschen erleben den Ausbruch des französischen Spielers mit. Zidane köpft einen italienischen Gegenspieler, der ihn provoziert hat, blitzschnell zu Boden. Wenige Sekunden später sieht Zidane die rote Karte. Er verlässt das Spielfeld, wieder in sich gekehrt, gesenkten Hauptes und mit feuchten Augen.
Naomi Campbell, am Londoner Flughafen 2008: Im Chaos am Heathrow-Airport ist ihr Koffer verschwunden. Das Blut der Mode-Ikone gerät heftig in Wallung. Sie tritt und spuckt, als zwei Polizisten versuchen, ihren Zornesausbruch zu bändigen. Fünf Tage muss Campbell bei der New Yorker Stadtreinigung strafputzen, sie wird zur Teilnahme an einer Wuttherapie verdonnert.
Für Psychotherapeut Theodor Itten sind das typische Beispiele für Jähzorn-Attacken. Im ersten Fall zieht ein reuiger Spieler vom Feld. Im zweiten Fall zelebriert eine Frau ihre Lust am Moment des Machthabens. "Jähzorn kann aus einem Menschen herausbrechen, wie die Lava eines Vulkans aus der Erde", sagt Itten. Der Schweizer, der in Hamburg und Sankt Gallen therapiert und forscht, hat ein Fachbuch über Jähzorn geschrieben. Im Sommer 2011 ist es auf Englisch unter dem Titel "Rage" erschienen.
Bei Bedrohung: Wut

Bedrohung weckt das Tier in uns. Früher bot uns Jähzorn Gefahrensituationen Schutz.
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Woher kommt Jähzorn? Wie äußert er sich? Was können wir tun, um ihn loszuwerden?
"Jähzorn hat etwas mit dem Tier in uns zu tun", sagt Itten. Er ist ein zerstörerisches und unkontrollierbares Ur-Gefühl, das aufkommt, wenn Menschen sich bedroht fühlen. Bot es früher in Gefahrensituationen Schutz, leiden heute Betroffene und vor allem Angehörige unter unverhältnismäßigen Zornesausbrüchen. Oft deuten Jähzorn-Attacken auf Krankheiten wie Alkoholismus hin, die Grenzen zur Störung sind oft fließend.
Seit Jahren setzt sich Itten mit dem aufbrausenden Gefühl auseinander, vielleicht, weil er selbst ein Kindheitstrauma erlitt, als sein Onkel ihn während eines Anfalls mit der Mistgabel attackierte. Wohl aber auch, weil immer mehr Menschen in seine Praxis kommen, die unter den Attacken anderer leiden. 22 Prozent der mehreren hundert Menschen, die der Fachmann für seine Studie befragt hat, erleben oder erlebten sich selbst als Opfer von Menschen, die die Kontrolle verlieren und ausrasten. Ungefähr genauso viele, ein Viertel der Studienteilnehmer, bezeichnen sich selbst als jähzornig.
Beispiele dafür gibt es viele, Itten kennt sie aus Therapiestunden: einen Vater, der in einem plötzlichen Anfall von Jähzorn auf sein Kind einprügelt, einen Angestellter, der im Stau zu toben beginnt und auf ein Autodach schlägt oder den Chef, der mit Gegenständen nach seinen Mitarbeitern wirft. "Oft beendet eine Gewalttat gegen Objekte oder Menschen den Ausbruch", erklärt der Therapeut.
Wenn Menschen mehr als viermal im Jahr Jähzornanfälle erleben, sprechen Psychiater von einer "psychischen Störung im Bereich der altersentsprechenden Affektkontrolle". In Therapien können Betroffene lernen, ihr Verhalten zu ändern. Etwa durch Körperpsychotherapie, durch Schematherapie oder kognitive Verhaltenstherapie. Jähzornige lernen, den jeweiligen Wut-Auslöser in sich zu spüren und ihren Mitmenschen rechtzeitig zu signalisieren, dass sich ein Ausbruch anbahnt. Viele, vor allem jähzornige Männer, müssen ihr Gefühlsrepertoire erweitern und dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu einer Eskalation kommt.
Krankhaft oder einfach impulsiv?
Wissenschaftlich gebräuchlich sind Begriffe wie Wut und Jähzorn nicht. Der Diagnosekatalog beschreibt aber das sogenannte Wutsyndrom. Und darunter leiden mehr Menschen als angenommen, allein in den USA sollen es 16 Millionen Menschen sein. Forscher von den Universitäten Harvard und Chicago zeigten sich nach einer Studie im Jahr 2006 überrascht von der hohen Zahl der Betroffenen. Sie weisen darauf hin, dass es bessere Therapiemöglichkeiten geben müsse. Nur 30 Prozent jener, die unter einem Wutsyndrom leiden, ließen sich in den USA zu der Zeit behandeln. Die Gefahr, dass sie Depressionen oder Ängste entwickeln ist groß. Viele greifen zu Alkohol und Drogen, viele bekommen beträchtliche soziale Schwierigkeiten.
Allerdings diagnostizieren Psychiater das Wutsyndrom bereits, sobald Menschen drei oder mehr solcher Ausbrüche in ihrem Leben hatten "Manche Menschen können Emotionen nicht bremsen, es laufen bestimmte Schleifen im Gehirn ab, das Gefühl schaukelt sich hoch und entlädt sich sozial inadäquat", beschreibt der Klinikpsychologe Mazda Adli von der Berliner Charité das Problem. Das müsse nicht immer krankhaft sein, sondern könne auch auf eine starke Impulsivität deuten. Trotzdem, merkt Adli an, könnten Wut- und Jähzorn-Ausbrüche auch ein Signal sein, dass eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliegt.
Viele Jähzornige, diese Erfahrung hat Theodor Itten gemacht, sind gar nicht therapiewillig. Viele erkennen ihre Krankheit selbst nicht, einige wenige leben während eines Anfalls auch ihre Herrschaftsgefühle aus. Es ist der Moment der Macht über andere, die kurzfristig Lust verschaffen kann, so Itten. Oft kommen die, die unter jähzornigen Menschen leiden, als Erste zum Therapeuten.
Doppelte Bürde für die Kinder
Wie die Studie des Schweizers gezeigt hat, werden "Täter" zu 68 Prozent in der Familie jähzornig. "Zu Hause unterliegt man nicht so sehr der sozialen Kontrolle, sondern kann seine dunkle Seite ungehemmter ausleben", sagt Itten. Gerade Männer seien im sozialen Umfeld kontrollierter, spielten aber zu Hause oft den Tyrannen. Doch betreffe Jähzorn auch Frauen, sie lebten Ausbrüche nur anders aus als Männer. Weniger gewaltsam, dafür schärfer in der Artikulation. Und weil Frauen multitaskingfähig sind, wird nicht nur gebrüllt, es fliegt gleichzeitig auch mal ein Teller.

Schont Betroffene, schont die Mitmenschen: "Laufen Sie der Wut davon", rät der Therapeut.
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Eltern, die aufbrausend sind und extreme Stimmungsschwankungen in der Familie ausleben, bergen ein großes Zerstörungspotenzial. "Vor allem Kinder reagieren verstört, wissen nicht, woran sie sind", sagt Itten. Viele Menschen, die eine Psychotherapie in Anspruch nehmen, hätten so etwas in der Kindheit erlebt, sagt er. Die Opfer sind dann in doppelter Weise betroffen: Sie werden als Blitzableiter missbraucht und sehen sich dann auch noch als Auslöser für den Tobsuchtsanfall des anderen.
Oft hilft es, den Ärger früh zu verbalisieren und sich rechtzeitig Fluchtwege zu suchen, um dem Ausbruch zu entgehen. Sport ist ein bewährtes Mittel, auf das Therapeuten setzen. Und so lautet der Tipp, den Betroffene bei Itten häufig hören: "Laufen Sie der Wut davon."
Quelle: ntv.de