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Weder Frau noch Mann "Wir sind keine Monster"

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Der Erfolg der Leichtathletin Caster Semenya rückte 2009 das Thema Intersexualität in den Fokus.

(Foto: picture alliance / dpa)

In Deutschland kommen jährlich hunderte Kinder zur Welt, die sich nicht eindeutig als Jungen oder Mädchen zuordnen lassen. Trotzdem scheint Intersexualität ein Tabuthema zu bleiben. Warum das so ist und was sich intersexuelle Menschen am meisten wünschen, erzählt Lucie Veith, Vorsitzende/r des Vereines Intersexuelle Menschen, im Gespräch mit n-tv.de.

n-tv.de: Sie wollen weder Frau noch Herr Veith genannt werden. Wie soll ich Sie ansprechen?

Sie können einfach Lucie Veith zu mir sagen. Meinen Vornamen haben meine Eltern für mich ausgesucht und den Nachnamen habe ich von meinem Mann übernommen, als ich ihn geheiratet habe.

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Das Symbol für Intersexualität

Wie möchten Sie am liebsten bezeichnet werden: Als Intersexuelle(r), Zwitter oder Hermaphrodit?

Meine vornehmste Eigenschaft ist es, Mensch zu sein. Eventuell bin ich dann noch ein intersexueller oder zwischengeschlechtlicher Mensch. Ich habe auch kein Problem damit, als Hermaphrodit bezeichnet zu werden. Zwitter dagegen ist für mich ein Schimpfwort. Aus meinem Empfinden heraus ist das so, als wenn man eine Frau als Weib bezeichnen würde. Als Selbstbezeichnung wiederum finde ich auch Zwitter in Ordnung.

Wann würde Ihnen Ihr Anderssein bewusst?

Das wusste ich sehr früh, aber mir ist erst sehr spät klar geworden, dass es meine Intersexualität ist, die ich da gespürt habe. Ich habe beispielsweise meine Freunde beobachtet und erkannt, dass ich anders bin als sie, denn sie bewegten sich anders, interessierten sich für andere Dinge und rochen sogar anders als ich. Erst in der Pubertät wurde mir klar, worin dieses Anderssein besteht. Seitdem wissen auch erst meine Eltern, dass ich intersexuell bin. Ich habe in meiner Kindheit von ihnen natürlich Sätze gehört, dass ich mich mehr wie ein Mädchen verhalten und nicht so wild sein solle. Aber das finde ich aus heutiger Sicht nicht schlimm. Meine Eltern haben mich von meiner Geburt an einfach als weiblich wahrgenommen und dementsprechend auch erzogen.

Das sogenannte dritte Geschlecht ist auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft noch immer ein Tabu. Worin sehen Sie die Hauptgründe?

Der christliche Glaube mit Adam und Eva deutet schon frühzeitig auf die strikte Zuweisung aller Menschen in zwei Geschlechter hin und ist bis heute übernommen. Als weitere Ursache ist sicherlich auch die deutsche Geschichte zu sehen. In der Nazi-Zeit mussten sich intersexuelle Menschen verstecken, um überhaupt diese Zeit zu überleben. Nach dem Krieg hat sich dieses Geheimhalten fortgeführt, unterstützt durch die Theorien des Psychologen John Money, der propagierte, dass 95 Prozent aller kurz nach der Geburt operierten intersexuellen Kinder in ihre von den Ärzten regelrecht auf den Leib geschneiderten Geschlechtsrolle hineinwachsen würden.

Seine Theorien konnte John Money nie beweisen.

Das stimmt. Moneys Thesen sollten sich in der Realität nicht bewahrheiten. Der Forscher war der Überzeugung, dass das Geschlecht nur erlernt wird und damit erst die Erziehung eines intersexuellen Kindes die Identität eines Jungen oder eines Mädchens verleiht. Money war damit der Auffassung, dass weder den Eltern noch den Kindern gesagt werden sollte, dass das Kind zwischengeschlechtlich ist, um alle Beteiligten nicht zu verwirren. Moneys Vorstellungen haben sich in vielen Köpfen festgesetzt und sind für intersexuelle Menschen bis heute spürbar. Eine gesellschaftliche Tabuisierung von Intersexuellen jedoch schützt diese Menschen nicht.

Wie meinen Sie das?

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Die Krankenpflegerin Christiane Völling wurde als Heranwachsender durch eine Operation zum Jungen gemacht. Sie klagte gegen den Mediziner - erfolgreich.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Die Tabuisierung ist ein Schutz für die Menschen, die ohne informierte Einwilligung intersexuelle Menschen, meistens im frühen Kindesalter, operiert haben. Sie müssen sich vorstellen, dass ein intersexueller Mensch, ein Kind mit nicht eindeutigem Geschlecht, per Operation zu einem Jungen oder einem Mädchen gemacht wird. Das ist Fremdverortung ohne Aufklärung darüber, welche Nebenwirkungen diese Operationen im weiteren Verlauf des Lebens haben können. 85 Prozent aller intersexuellen Menschen haben einen Pass, der sie als weiblich ausweist. Das ist kein Wunder, denn die Operation der Geschlechtsorgane zu einer Vagina ist leichter, als einen Penis operativ herzustellen. Das bedeutet in der Praxis, dass Menschen mit XY-Chromosomen zu kleinen Mädchen gemacht werden, obwohl die Eltern eigentlich einen Jungen gezeugt haben, wenn alle Entwicklungsprozesse gewöhnlich verlaufen wären.

Woher kommt Ihrer Meinung nach der Druck in der Gesellschaft und eben auch bei Ärzten, jemanden eindeutig als weiblich oder männlich einordnen zu müssen?

Es fehlt meiner Meinung nach an Respekt und Willen, einen intersexuellen Menschen so sein zu lassen, wie er ist, und seine ganz spezifischen Potenziale zu erkennen. Die Entfernung von Hoden beispielsweise, um die Ausschüttung von Hormonen zu verhindern, ohne die ausdrückliche Einwilligung und Aufklärung des Menschen, der operiert wird, einzuholen, ist ein Übergriff, mit dem sich Ärzte zu Göttern aufspielen. Solche Operationen sind einfach falsch, weil sie aus medizinischer Sicht nicht zwingend notwendig sind. Mit solchen Eingriffen sollen einfach Tatsachen geschaffen und die Gesellschaft vor Verwirrung geschützt werden. Das passiert auf Kosten der Gesundheit von intersexuellen Menschen und ist damit eindeutig der falsche Weg.

Hermaphroditen gibt es ja seit Menschengedenken. Wurden Sie schon immer so tabuisiert wie heute?

Nein. Nach dem Personenstandsgesetz von 1871 beispielsweise hatten zwischengeschlechtliche Menschen die Möglichkeit, sich als Zwitter eintragen zu lassen. Damals durften sich die Menschen mit dem erreichten 18. Lebensjahr entscheiden, ob sie als Mann oder Frau leben wollten. Das heute gültige Personenstandsrecht ist im Vergleilch dazu ein extremer Rückschritt. Zudem fehlt es an Aufklärung. Die Kinder in der Schule beispielsweise erfahren nichts von Intersexualität, obwohl wissenschaftlich nachgewiesen wurde, dass es das dritte Geschlecht gibt.

Sie selbst gehen mutige Schritte und sprechen in der Öffentlichkeit über Ihre Intersexualität, Sie sind erste/r Vorsitzende/r von Intersexuelle Menschen e.V . Haben Sie deshalb schlechte Erfahrungen machen müssen?

Nein. Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass die Gesellschaft gar keine Probleme mit intersexuellen Menschen hat. In den Gesprächen, die ich geführt habe, sind mir die meisten Menschen sehr zugewandt. Viele von ihnen sind offen erstaunt darüber, dass es Intersexualität tatsächlich gibt. Wieder andere sind sehr interessiert und eine dritte Gruppe sagt: "Das ist mir doch egal". Echte Ablehnung habe ich jedenfalls noch nicht erlebt.

Trotzdem müssen sich in Deutschland intersexuelle Menschen einem Geschlecht zuordnen.

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Lucie Veith fühlt sich weder als Mann noch als Frau, sondern als Mensch.

Das ist richtig. Das größte Problem für zwischengeschlechtliche Menschen stellt die sogenannte Zwangsverortung dar. In Deutschland muss jeder Mensch einem Geschlecht zugeordnet werden. Ein Kind wird als Junge oder als Mädchen geboren. Kann nach der Geburt das Geschlecht nicht eindeutig bestimmt werden, werden die Eltern bedrängt, möglichst bald eine Entscheidung zu treffen, die oftmals mit einer anschließenden Operation einhergeht. Aus dieser Entscheidung können nicht nur körperliche Probleme, sondern auch psychische Leiden entstehen, die oft ein Leben lang vorherrschen.

Mit welchen konkreten Schwierigkeiten müssen sich Intersexuelle im Alltag auseinandersetzen?

Auf vielen Formularen und in fast allen Behördenangelegenheiten wird das Geschlecht abgefragt. Es gibt dort nur ein entweder Mann oder Frau, so wie auch im deutschen Recht. Als konkretes Beispiel kann ich auf die Leistungen der Krankenkassen verweisen. Auf jeder Krankenkassenkarte ist das Geschlecht des Versicherten gespeichert. Wird ein intersexueller Mensch als Frau krankenversichert, so kann er beispielsweise keine Prostatabehandlung, obwohl im Körper vorhanden, in Anspruch nehmen. Das ist eine Farce.

Viele intersexuelle Menschen legen einen langen Leidensweg zurück, bevor sie sich entscheiden, sich so anzunehmen wie sie sind. Gibt es etwas, was diesen Weg verkürzen könnte?

Ich frage mich oft: Warum und für wen muss nach einer Geburt einem Kind ein Geschlecht zugeordnet werden? Warum kann ich ein Kind nicht einfach ein Kind sein lassen? In unserer Gesellschaft wird jede Menge getan, um Geschlechtsstereotypen abzubauen, und niemand soll wegen seines Geschlechts benachteiligt werden. Für intersexuelle Menschen gilt das leider nicht. Ich persönlich finde es wesentlich wichtiger, das Kind so anzunehmen wie es ist und möglichst nicht schon kurz nach der Geburt in eine bestimmte Geschlechterschublade zu packen. Akzeptanz des dritten Geschlechts und Zeit wären wirklich hilfreiche Dinge für zwischengeschlechtliche Menschen. Dazu kommt die Aufklärung in der Öffentlichkeit, denn wir sind keine Monster.

Wie sollte denn Ihrer Meinung nach am besten mit intersexuellen Kindern verfahren werden?

Als erstes geht es für mich vor allem darum, dass die körperliche und seelische Unversehrtheit des Menschen im Vordergrund steht. Das gilt ja auch für alle anderen Kinder. Also sollten keine Operationen, die nicht dringend erforderlich sind, vorgenommen werden. Den Eltern sollte jede Menge Zeit gelassen werden, um sich an ihr besonderes Kind zu gewöhnen. Die Kinder sollten ab einem bestimmten Alter selbst das Recht haben, sich als Jungen oder Mädchen oder weder noch einzuordnen. Sie sollten also selbst die Möglichkeit haben, sich laut einer neu veränderten Personenstandsordnung zu verorten. Davor ist es gar nicht unbedingt notwendig, eindeutig anzugeben, ob es sich bei einem Kind um einen Jungen oder um ein Mädchen handelt.

2011 hat sich Australien dafür entschieden, im Pass eine dritte Geschlechtsbezeichnung für Intersexuelle einzuführen. Was sagen Sie dazu?

Das begrüße ich sehr, da intersexuelle Menschen damit endlich auch die Möglichkeit haben, nach außen hin das zu sein, was sie sind, nämlich weder Mann noch Frau, sondern Menschen. Ich kenne viele zwischengeschlechtliche Menschen, die sich gar nicht festlegen möchten, da sie sich weder als Frau noch als Mann fühlen. Sie sind eben etwas zwischen diesen beiden Geschlechtern und damit etwas ganz Besonderes.

Könnte eine besondere Kennzeichnung von intersexuellen Menschen nicht auch zu Diskriminierung führen?

Wenn diese besondere Klassifizierung offen für alle ist, die sich nicht als Männer oder Frauen verorten, dann sicher nicht.

Mit Lucie Veith sprach Jana Zeh

Quelle: ntv.de

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