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Frühstück mit Schwimmbrille "Xtreme-Aging"-Kurse

Schon das Frühstück ist eine denkwürdige Erfahrung. Knapp zwei dutzend Probanden sitzen am Tisch und sollen Knäckebrot mit drei verschiedenen Marmeladensorten bestreichen. Kein Problem eigentlich - es sei denn, man hat die Finger mit Heftpflastern zusammengebunden, Handschuhe an, schummrige Schwimmbrillen auf und die Nase mit feuchter Watte verstopft. Dann zerbröselt das Knäckebrot unter den ungeschickten Fingern, und welche Marmelade da auf den trockenen Bruchstücken verlockend glänzt, ist im Grunde egal: Ohne Geruchssinn schmeckt sowieso alles gleich. Ein frustrierendes Erlebnis für die Kursteilnehmer; für viele alte Menschen ist so etwas allerdings Alltag.

In den USA werden immer häufiger Kurse angeboten, in denen jüngere Menschen erfahren sollen, wie es ist, alt zu sein. Viele Pflegekräfte sind unter den Teilnehmern, aber auch Angehörige, die ihre alten Eltern zu Hause betreuen, Schulklassen und viele aus der Generation der "Baby-Boomer", die aufs Rentenalter zusteuern. "Wir wollen zeigen, was es bedeutet, zu altern - und zwar sowohl für die eigene gesellschaftliche Rolle, wie auch für den Körper, die Seele, fürs Denken und fürs Fühlen", sagt Peg Gordon, Kursleiterin am Macklin Intergenerational Institute in Finley im Bundesstaat Ohio, einem der Vorreiter in Sachen Altersschulung.

In einen gebrechlichen Menschen verwandelt

Das Altersheim Westminster Thurber aus Ohio schickt seine Pflegekräfte regelmäßig in die "Xtreme Aging"-Kurse ("Altern extrem") in Finley. "Sinn dieser Workshops ist es, das Verständnis für die Probleme zu entwickeln, die das Alter mit sich bringt", sagt Heimleiter Steve Lemoine. "Dadurch können die Pfleger eine bessere Beziehung zu den alten Menschen aufbauen." Der Name der Kurse ist Programm: Den Teilnehmern wird in den drei- bis achtstündigen Workshops voller Einsatz abverlangt - körperlich und seelisch. Auch wer als "Best Ager" oder fitter Mittdreißiger in den Kurs geht, verwandelt sich durch die drastischen Methoden binnen kurzer Zeit in einen unsicheren Menschen mit zahlreichen Gebrechen.

Fettverschmierte Schwimmbrillen simulieren typische Sehbehinderungen wie den Grauen Star oder ein eingeengtes Sichtfeld. Durch die Handschuhe verlieren die Teilnehmer den Tastsinn. Feste Pflasterverbände machen die Finger so steif wie eine Arthritis. Wattebäusche in den Ohren verschlechtern das Gehör, Watte in der Nase das Geruchs- und Geschmacksempfinden. Manchmal müssen die Teilnehmer sich sogar noch Erbsen in die Schuhe streuen, damit sie den Druck von Hühneraugen spüren können. "Und dann lassen wir alle eine Reihe von Alltagsaufgaben erledigen", sagt Gordon. "Können Sie unter diesen Bedingungen ihre Tabletten auswählen, zählen und einnehmen? Können Sie auf dem Handy eine Nummer eintippen? Können Sie einen Stadtplan lesen? All dies wird auf einmal zu einer extrem frustrierenden Tätigkeit."

Gesellschaftliche Konsequenzen

Viel belastender noch sind die gesellschaftlichen und seelischen Konsequenzen des Alterns: wenn die Freunde nach und nach sterben, oder wenn beim Umzug ins Altersheim fast alle persönlichen Erinnerungsstücke zurückbleiben müssen. Im "Xtreme Aging" notieren die Teilnehmer zu Beginn, welche fünf Menschen sie besonders lieben, welche drei Dinge ihnen besonders am Herzen liegen und welche drei Tätigkeiten ihnen besonders wichtig sind - wie Autofahren, reisen oder wählen. Im Laufe des Kurstages, während sie fiktiv altern, müssen sich die Teilnehmer nach und nach von Menschen und Dingen trennen - von ihrem Ehemann oder einer Schwester zum Beispiel oder von Erbstücken.

"In den USA darf man normalerweise ins Altersheim nur zwei persönliche Besitzstücke mitnehmen, das Fotoalbum und einen kleinen Fernseher zum Beispiel", erläutert Gordon. "Für unsere Teilnehmer ist es ein Schock, wenn sie das begreifen." Manche Teilnehmer machen die Kurse aber auch geradezu glücklich - wie den 85-Jährigen, der mit Wonne die Übungen bestreitet und am Ende zu der Erkenntnis kommt: "Wie schön, dass ich vorher gar nicht wusste, dass ich alt bin."

Virginie Montet, AFP

Quelle: ntv.de

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