Mit Aids im Alltag "Ich bin ein Privilegienkranker"
01.12.2010, 10:00 Uhr
Am 1. Dezember ist Welt-Aids-Tag.
(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)
In Deutschland leben laut Robert-Koch-Institut rund 70.000 Menschen mit dem HI-Virus. Davon sterben jährlich ungefähr 550 an den Folgen der Aids-Erkrankung. Durch Medikamente können HIV-Infizierte heute ein ähnliches Leben führen wie chronisch Kranke. Wie so ein Leben aussehen kann, erzählt Thomas W., der laut Prognosen von Ärzten schon gar nicht mehr leben dürfte.
n-tv.de: Wie geht es Ihnen?
Thomas W.: Danke!
Seit wann wissen Sie, dass Sie Aids haben?
Warten Sie, ich hab’ immer brav die Jahre mitgezählt, aber jetzt muss ich schon nachrechnen: seit ziemlich genau zwölf Jahren. Ich bin damals kurz vor dem Ende beim dazugehörigen Arztbesuch sozusagen mit Blaulicht und aus dem Stand Aids krank geworden, ohne vorher eine HIV-positive Phase durchlebt zu haben, jedenfalls keine, von der ich wusste. Im Moment habe ich die mit Beginn meiner Behandlung gemachte Prognose, wie lange ich maximal noch zu leben hätte, um zehn Jahre überlebt.
Wie sieht Ihr ganz normaler Alltag aus?

Die Rote Schleife ist das Symbol für die Solidarität mit HIV-positiven und Aids-kranken Menschen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Man könnte meinen normal. Ich habe einen Vierzig-Stunden-Job. Ich stehe auf, arbeite und gehe nach Hause. Das war’s dann aber auch. Zu Hause ist nämlich der Ofen aus. Es ist mittlerweile schon zu anstrengend, auch gute Freunde nach 20 Uhr zu sehen. Das Fernsehen ist mein bester Freund, ich lebe allein. Schon Lesen ist abends meist zu Kraft zehrend, dafür muss ich mich bereits disziplinieren. Am Wochenende ist ein Tag notwendig, um die Erschöpfung zuzulassen und durchzuhängen, am anderen muss alles andere passieren. Einkaufen, Schwimmen, mich und den Haushalt halbwegs domestiziert halten, soziale Kontakte pflegen. Das meiste findet dann gar nicht statt, weil ja nicht alles zugleich möglich ist: ein kleines Leben mit sehr kurzen Tagen oder ein Tag Leben in der Woche - da zerrinnt die Zeit zwischen den Fingern.
Wäre es Ihnen lieber, nicht mehr zu arbeiten?
Ganz unbedingt. Das ist aber derzeit undenkbar. Ich habe eine Familie zu versorgen, und es ist mir persönlich unmöglich, mich aus der Verantwortung zu nehmen. Es geht da vorrangig gar nicht um mich und meine Befindlichkeit. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, habe auch ich durch die Krankheit eine "gebrochene Biografie". Mit einer Lebenserwartung von höchstens zwei Jahren studiert man eben nicht noch schnell zu Ende, kümmert sich vorrangig um einen gelungenen Karrierestart, schließt noch schnell eine Rentenversicherung ab: keine Ausbildung also. Ich hatte ja damals nicht einmal einen Rentenanspruch und wäre sofort in die Sozialhilfe gerutscht. Da sollte ich also schon arbeiten und die Nische besetzen, die sich mir erfreulicherweise geboten hat - und ich kann es ja auch noch.
Fällt es Ihnen schwer, gegenüber Fremden über Ihre Erkrankung zu sprechen?

Das HI-Virus als Hintergrundprojektion bei einem Aktionstag für Aids-kranke Menschen.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Nein! Aber die Frage kann nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden. Das hängt sehr ab. Vom Berufsumfeld zum Beispiel. Von den Rahmenbedingungen überhaupt. Meine Familie lebt zum überwiegenden Teil in Bulgarien, da ist jedes HIV/Aids-Outing nach wie vor gesellschaftlicher Selbstmord. Selbst wenn man sich selbst der Ächtung gewappnet fühlt, befinden sich alle Verwandten in gemeinschaftlicher Verdammnis. Selbst sehr nahe Familienangehörige wissen also nicht Bescheid, geschweige denn Fremde. Es ist also oft nicht nur schwer gegenüber irgendwem über Aids zu sprechen, sondern in der Regel unmöglich, solange man sich noch "in geordneten Bahnen" bewegt und sich nicht ständig dem Eröffnungs- und Erklärungskrampf und -kampf stellen will. Auch möchte ich meine kleine Tochter ungern unbeschützt mit den Folgen meiner Erkrankung belasten müssen – das gilt dann auch für jeden deutschen Spielplatz! Und dann lautet die Antwort unbedingt: ja!
Wer oder was hilft Ihnen in schlechten Phasen?
Meinen Sie die "nur schlechten Phasen" oder die "richtig schlechten Phasen"? In den "nur schlechten Phasen", also meinem Leben als chronisch Kranker überhaupt, hilft mir niemand und nichts. Die Existenz reibt sich an der Isolation durch die Krankheit und zerreibt sich so in Widersprüchen. Man ist ja meist noch gesund krank und lebendig schon tot, die wandelnde Leich’. Solange noch alle Arme dran sind, wird man in der Regel nicht als krank, beeinträchtigt und behindert wahrgenommen. Deshalb hilft einem auch niemand, solange man nicht deutlich vernehmbar um Hilfe bittet. Erschöpfung allein, selbst wenn das eine bis zum Tode ist, zählt gar nicht – was das aber bedeutet, ist für die Nichterschöpften kaum nachvollziehbar. Für die "richtig schlechten Phasen" bin ich zuversichtlich und ohne Angst, ohne dass ich "wer" oder "was" jetzt schon bestimmen könnte. Das zeigt sich, wenn es soweit ist.
Was wünschen Sie sich von Ihren Mitmenschen?
Insbesondere Schutz, Unterstützung und beherzte Stellungnahme für die, die von HIV/Aids betroffen und wirklich hilflos sind. Damit meine ich ausdrücklich nicht uns behandelte erwachsene Privilegienkranke in zum Beispiel Deutschland. Es gibt mittlerweile wirklich Schlimmeres. In Rumänien beispielsweise werden infizierte Kinder noch immer von ihren Familien weggegeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang unbedingt auf ein Projekt dort aufmerksam machen. Wenn da auf der Homepage Love Light Romania steht, dass es einfach darum geht, diesen Kindern ein würdiges Sterben zu ermöglichen, empfinde ich das immer noch auf eine vernichtende Art erschütternd und wirklich beschämend.
Sie sprechen von sich als Privilegienkranken. Fühlen Sie sich medizinisch gut betreut?
Ja.
Sie sind - nachdem Sie wussten, dass Sie Aids haben - Vater einer gesunden Tochter geworden. Wie funktionierte das und was bedeutete es für Sie?
Durch ICSI, intrazytoplasmatische Spermieninjektion. Ein einzelnes Spermium kann isoliert und, um es einfach zu sagen, von HIV sauber gewaschen, in vitro in eine Eizelle injiziert werden. Künstliche Befruchtung also. Unterm Strich eine große Belastung und damit Leistung der gesunden Mutter. Das kann ich hier aber nur verkürzt und nur verzerrt darstellen, und im Eigentlichen sagt das auch nicht, wie’s funktioniert. Das ist natürlich ein unnatürliches, übermenschliches Ding und der Preis ist hoch: Das tatsächlich zu bezahlende Geld war der geringere Posten - bei einer HIV-Erkrankung übernimmt die Krankenkasse im Übrigen keinerlei Kosten. Dass ich Vater geworden bin, habe ich als großes Geschenk erlebt, deutlich auch als Verpflichtung und schließlich als Erlösung von mir selbst.
Was wünschen Sie sich für Ihre ganz persönliche Zukunft?
Nichts mehr. Solange es geht, geht es. Wünsche sind da kitschig.
Mit Thomas W. sprach Jana Zeh
Quelle: ntv.de