Leben

Ohne Sturm und Drang Als Goethe sein Sabbatical in Rom plante

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Wird bis heute gerne kopiert und neu interpretiert: Tischbeins Porträt von Goethe in der Campagna. Das Original hängt im Frankfurter Städel Museum.

Wird bis heute gerne kopiert und neu interpretiert: Tischbeins Porträt von Goethe in der Campagna. Das Original hängt im Frankfurter Städel Museum.

(Foto: Casa di Goethe / Giorgio Benni)

Lust auf ein Sabbatical? Bereits Goethe machte es vor: Ausgebrannt vom Beruf flieht er nach Italien, wird danach wieder kreativ. Sehr modern lebte der Dichter in einer Künstler-WG mitten in Rom. Heute ist die Wohnung namens "Casa di Goethe" das einzige deutsche Museum im Ausland.

Die Stopptaste drücken, jetzt oder nie. Raus aus dem Job, am besten gleich mehrere Monate. Nicht nur sagen "Ich bin dann mal weg", es machen. Ein weltberühmtes Vorbild in Sachen Sabbatical ist Johann Wolfgang von Goethe. Er verschwand einfach so für knapp zwei Jahre nach Italien. Das hinterließ nicht nur in seinem eigenen Kopf Spuren, sondern auch in seinem Werk. Goethes Auszeit können Neugierige direkt in seiner ehemaligen Wohngemeinschaft in Rom ergründen. Unweit der eleganten Piazza del Popolo und der Spanischen Treppe befindet sich in der Via del Corso 18 die "Casa di Goethe", ein verstecktes Museums-Juwel, das funkeln und besucht werden will.

Bringt die Casa di Goethe mit klugen Interventionen zum Funkeln: Museumsdirektor Gregor H. Lersch.

Bringt die Casa di Goethe mit klugen Interventionen zum Funkeln: Museumsdirektor Gregor H. Lersch.

(Foto: Giorgio Benni)

In diesem Haus war Goethes bescheidenes WG-Zimmer. "Wir haben eine Toplage, sind mittendrin im historischen Zentrum", verrät Museumschef Gregor H. Lersch ntv.de beim Besuch in Rom. "Allerdings ist es keine touristische Straße, hier gehen die Römer shoppen." Über Schaufenstern mit Taschen, Tüchern und Schuhen wehen große dunkelrote Fahnen. Sie weisen auf die gewichtigen Räume hin, die sich auf zwei Stockwerken verteilen. Durch eine schwere Holztür geht es über eine Marmortreppe in den ersten Stock und die "Casa di Goethe", dem einzigen deutschen Museum im Ausland.

Goethe alias Herr Möller

Als Goethe seinem Job als Geheimrat voller administrativer Aufgaben rund um Straßenbau und Steuerangelegenheiten in Weimar den Rücken kehrt, ist er ein mittelalter Mann. Berufliche Verpflichtungen, eine unerfüllte Liebe und vielfältige innere Zwänge blockieren ihn beim Schreiben. Seine alles verändernde Auszeit trat der Dichter kurz nach seinem 37. Geburtstag im Herbst 1786 an. Heimlich, alias Johann Philipp Möller, reiste er per Pferdekutsche fünf Wochen die 1500 Kilometer nach Rom.

Zu seiner Zeit war er für einen Trip dieser Art eigentlich zu alt. "Es ging ihm nicht um Sturm und Drang, Sex und Exzess, wie damals bei solchen Bildungsreisen in Adelskreisen üblich. Was seine Reise so modern macht, ist die Suche des Schriftstellers nach Kreativität", sagt Lersch. Darin sieht der Kunsthistoriker auch die wichtigste Erzählung des Museums, das jetzt 25-jähriges Bestehen feiert.

Goethes Leben in Rom und Italien wird durch zahlreiche Aquarelle, Zeichnungen, zeitgenössische Kunstwerke, besondere Exponate wie Quittungen sichtbar gemacht. Er hatte tatsächlich über seine Ausgaben akribisch Buch geführt. Da tauchen Wein, Kastanien und Schokolade auf, aber keine Frauengeschichten. Vor einem Jahr hat Lersch seinen neuen Posten in Rom angetreten und seither einiges gedreht. Als Erstes die Laufrichtung durch die Dauerausstellung, die er mit multimedialen Eingriffen glänzend aufpoliert hat. "An so einem kleinen Ort kann man mit wenig sehr viel machen", erklärt Lersch, der zuletzt als Ausstellungsleiter am Jüdischen Museum in Berlin arbeitete.

Damen in Pink

Der Museumsdirektor hatte die Idee, Studenten der Weißensee Kunsthochschule Berlin sich mit Themen auseinanderzusetzen zu lassen, die in der 20 Jahre alten Dauerausstellung lediglich impliziert waren. Sein Hintergedanke dabei sei auch, dass er mit der Neukonzeption des Hauses beginnen und eine andere Generation einbinden könne. Er möchte die klassische Italienreise in die Gegenwart heben.

Jetzt erzählt jeder Raum des Museums durch die pink gekennzeichneten Interventionen eine neue Geschichte. So gibt es ein Tastkabinett zu Goethes Naturstudien. Gleich dreimal bestieg Goethe den Vesuv und wurde einmal sogar auf dem Gipfel von einer lebensbedrohlichen Explosion überrascht. "Ausbrechende Vulkane sind immer spannend", sagt Lersch. Auch die Frauen, die den Dichter maßgeblich in seinem Werk beeinflusst haben, fanden die Studierenden relevant. Die Damen sind plötzlich in Goethes alter WG sehr präsent - natürlich in Pink.

Der erste Schritt der Transformation erinnert jedoch an ein düsteres Kapitel der deutschen Präsenz in Rom. Gleich zu Beginn des Rundgangs wird der Nationalsozialismus thematisiert. In dem Zwischengeschoss der Via del Corso 18, dem sogenannten Mezzanin, überlebte der jüdische Kohlenhändler Guido Zabban. Dessen Sohn Fausto tauchte im November vergangenen Jahres just in dem Moment in der "Casa di Goethe" auf, als sich Lersch mit seinen Berliner Gästen mitten im Workshop zu den Interventionen befand. Nun ist der 93-jährige Zabban als Zeitzeuge in einem Video die erste Station der Ausstellung. Er erzählt von den neun Monaten, in denen die vierköpfige Familie getrennt voneinander in Rom versteckt war und den Terror überlebte.

Der Dichterfürst als Mensch

Ikone trifft Ikone: Pop-Art-Star Andy Warhol und seine Interpretation des Dichterfürsten.

Ikone trifft Ikone: Pop-Art-Star Andy Warhol und seine Interpretation des Dichterfürsten.

(Foto: privat)

Welche Worte Goethe für dieses düstere Lebenskapitel wohl gefunden hätte? Das kann man sich in der Bibliothek des Hauses überlegen. Dort liegen chinesische, katalanische oder niederländische Ausgaben der goetheschen Klassiker auf pinken Bücherboxen und laden alle Nationalitäten zum Lesen in seinem Werk ein. Eine römische Schneekugel oder ein zerfledderter Baedeker konkurrieren mit Andy Warhols bekanntem Goethe Porträt. Inspiriert von einem Besuch im Frankfurter Städelmuseum hatte der amerikanische Popart-Star diesen mit Acrylfarben überarbeiteten Siebdruck 1982 sechsmal produziert. Einer hängt in Rom.

Goethes WG-Freund Johann Heinrich Wilhelm Tischbein hatte 1786 das Originalgemälde in diesen Räumen angefertigt. Es zeigt den Dichterfürsten mit Schlapphut, eingehüllt in einen Mantel und sehr lässig in der römischen Campagna sitzend. Ein vielfach kopiertes und neu interpretiertes ikonisches Bild, wie die Ausstellung amüsant verdeutlicht. Literaturgeschichte und Gegenwartskunst treffen sehr frisch aufeinander. Da geht noch mehr, ist sich Lersch sicher. Selbst der wohlhabende Dichterfürst sei nur ein Mensch, der eine Krise durchlebte. Auch das könne in der "Casa di Goethe" mit Mitteln der Kunst vertieft werden.

Tischbeins Atelier lag direkt neben Goethes Zimmer. Originalmöbel gibt es keine mehr. Aber ein raffinierter Spiegeltisch zeigt dem Publikum, die alte Kassettendecke, die Goethe gesehen hat, wenn er im Bett lag. "Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt", schrieb er Ende Oktober 1786 in sein Tagebuch. Seine Künstler-WG mit drei deutschen Malern bezog er einen Tag später. In dem Gebäude wohnte Goethe mit Unterbrechungen ein Jahr. Zwischendurch bereist er intensiv "das Land, wo die Zitronen blühen." Er stürzt sich in die Vergangenheit, lernt zeichnen, forscht, genießt den Austausch mit Künstlern, aber trödelt auch mal in den Tag. Letzteres suggerieren jedenfalls Tischbeins Zeichnungen in Goethes Kammer.

Zeit zum Entspannen in Tischbeins WG-Zimmer. Im Blick eine Kopie seines weltberühmten Goethe-Bildes.

Zeit zum Entspannen in Tischbeins WG-Zimmer. Im Blick eine Kopie seines weltberühmten Goethe-Bildes.

(Foto: Enrico Fontolan)

Die Zeit in Italien wird seine glücklichste und freieste. Die erst vier Jahrzehnte später geschriebene "Italienische Reise" ist eine immer noch viel zitierte, verzaubernde Lektüre. Goethes Beschreibungen stammen aus einer Zeit, in der aufregende Bücher übers Reisen entstanden. Inzwischen postet ja jeder Sonnenuntergänge im #endlesssummer, schreibt lieblose Restaurant- oder Hotelbewertungen, fotografiert die Liebsten beim Sightseeing per Hop-on-Hop-Off-Bus.

Deutsche Italien-Sehnsucht

Reisen und Bewegung sind bis heute und weit über Goethe hinaus faszinierende Themen. Da steht Massentourismus gegen nachhaltiges, entschleunigtes Reisen. Die verschiedenen Möglichkeiten des Reisens will Lersch in der "Casa di Goethe" künftig als Thema auffalten. Ebenso wie Migration, kulturelle Aneignung oder die Frage, was Italien für Deutsche ist. Jenseits der Sehnsucht nach Süden, Wärme, Licht, Leichtigkeit und alter Geschichte ist nicht alles gülden.

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"Schon Goethe war auf die Antike fokussiert. Das ist auch typisch für das Italien-Bild heute. Die Realität, in der die Italiener leben, will kein Tourist wahrhaben. Das Land steckt in einer tiefen Krise mit einer hohen Arbeitslosigkeit und kämpft mit der Verrohung der Gesellschaft." Die Nähe zu Afrika birgt zusätzlichen Konfliktstoff. Goethe beschrieb Süditalien vor 236 Jahren als "Kontaktzone nach Nordafrika".

Rom dagegen steht für eine beeindruckende Zeitschichtung: Die Ruinen, die Goethe besichtigte, waren längst nicht so freigelegt wie heute, das wird beim Betrachten der Stadtansichten aus seiner Zeit klar. "Goethe muss knietief im Matsch gestanden haben", gibt Lersch zu bedenken. Alles, was der Schriftsteller in Italien erlebte und sah, positiv wie negativ, inspirierte ihn. Am Ende der Reise konnte er endlich wieder wie ein Künstler fühlen. In seinem nach der Auszeit entstandenen literarischen Werk flossen selbstverständlich Neues und Fremdes ein. "Das zeigt, dass Europa natürlich keine Erfindung aus Brüssel ist", so Lersch "sondern tief verwoben ist in alles, was über die Jahrhunderte seit Goethe gedacht wurde."

How to Rome

Anreise & Wohnen: Viele Wege führen bekanntlich hierher. Der Flughafen ist gut erreichbar und per Expresszug an die Stadt angebunden. Ebenso kann man mit der Bahn und dem Nightjet anreisen. Die Auswahl an Hotels und Ferienwohnungen ist riesig.
Essen: Für den morgendlichen Espresso im Stehen geht es zu Rosati an der Piazza del Popolo. Die Bar Frattina ist empfehlenswert für Lunch, Aperitivo oder Eis, sie liegt nur einen Steinwurf von der Spanischen Treppe entfernt. Zum Abendessen geht es zu Buccone in der Via di Ripetta oder zu Ninù in der Via della Frezza.
Auf Goethes Spuren: Casa di Goethe, Via del Corso 18, 10 bis 18 Uhr geöffnet, montags geschlossen. Das Goethe-Denkmal findet sich in der Villa Borghese, Ecke Viale Josè de San Martin/ Viale Goethe. Und an der Chiesa di Sant'Onofrio ist eine Gedenktafel für Goethe angebracht.
Lesen: Unbedingt die "Italienische Reise" von Johann Wolfgang von Goethe. Bei Nicola Lagioia "Die Stadt der Lebenden" wird Rom von einer sehr düsteren Seite gezeigt. Das Buch basiert auf einem real geschehenen Mord. Der italienische Bestsellerautor wird am 14. November in der Casa di Goethe zu Gast sein.

Quelle: ntv.de

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