Leben

Diagnose: Pankreaskarzinom Annas letzte Reise

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Den Sommer genießen, den Balkon wieder flottmachen - Anna schmiedet trotz ihrer Krankheit Pläne.

(Foto: imago/Photocase)

Anna steht mitten im Leben. Sie ist Mutter einer Tochter, fährt in den Urlaub. Hat Pläne. Doch plötzlich wird ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und sie erkennt: Die Zeit ist gegen sie.

Februar.

Plötzlich ist da diese Appetitlosigkeit. Anna nimmt es gelassen, freut sich sogar ein bisschen. Endlich kein Heißhunger mehr - und dem herrlichen Geruch widerstehen, der sie jedes Mal an ihrem Lieblingsbäcker anhalten lässt, wenn sie nach der Arbeit in die kleine Seitenstraße kurz vor ihrer Wohnung einbiegt. Ein DDR-Bäcker mit Familientradition und 1950er-Jahre-Ladentheke. Wie aus der Zeit gefallen. Rezepte der Urgroßmutter. Blechkuchen und süße Hörnchen - für den Bienenstich könnte Anna sterben.

Seit sie aus dem Urlaub zurück ist, glaubt Anna manchmal, ein leichtes Zwicken in der Magengegend zu spüren. Bestimmt das scharfe indische Essen, redet sie sich ein. Das flaue Gefühl im Bauch kommt meistens nachts und verschwindet am Morgen, nur selten bleibt es bis mittags. So geht das etwa zwei Wochen. Anna isst weniger, aber schlecht geht es ihr nicht. Auf der Arbeit fragen Kollegen, ob sie abgenommen hat, sie erhält Komplimente.

Anna fühlt sich geschmeichelt.

Dann kommt das Fieber. Anna ist ständig müde, schlafen kann sie nicht. Dieses schwer beschreibbare Grummeln bleibt jetzt länger. Ein Ziehen, ein Krampfen, manchmal erbricht sie.

März.

Anna geht zum Arzt. Diagnose: Nierenbeckenentzündung. Dazu ein kleiner Infekt. Bettruhe, Antibiotika, Anna soll viel trinken. Zu Hause gibt es Ärger mit Tochter Mia. Anna erwischt sie beim Schulschwänzen. Und Nachbarn beschweren sich, die 16-Jährige würde im Treppenhaus rauchen und knutschen. In Briefkästen werden Zigarettenstummel gefunden. Anna spricht mit der Klassenlehrerin, organisiert eine Nachhilfe, Mias neuer Freund darf zum Essen bleiben, Anna geht es besser.

Ostern.

Anna hat wieder Appetit. Das Magengrummeln ist nur noch latent spürbar. Vielleicht, glaubt Anna, bildet sie sich das komische Gefühl auch nur ein. Wie sie sich schon ganz oft irgendwas eingebildet hat. Bloß nicht immer alles zerdenken, sagt Anna und freut sich, dass sie die abgenommenen Kilos nicht schon längst wieder drauf hat. Da kann der Sommer ja kommen.

Mai.

Anna braucht einen neuen Bikini. Ist ein pinker Bikini nicht ein bisschen zu auffällig, überlegt sie und kauft ihn erst recht. Die Tochter verdreht die Augen, als die Mutter den neuen Bikini vorführt. Ausgelassen albern sie vor dem Flurspiegel herum, Pink steht Anna ausgezeichnet.

Zwei Tage später fühlt sie sich unwohl, die Glieder schmerzen, der Kopf fühlt sich an, als würde er jede Minute platzen. Anna erbricht, das Fieber ist zurück. Morgens ist ihr schwindelig, der Bauch fühlt sich komisch an - so aufgebläht. Anna geht erneut zum Arzt. Und dann zu noch einem. Der schickt sie ins Krankenhaus, wo man sie intensiv untersucht, CT, MRT, Anna ist schon ganz durcheinander. Die Schwestern schauen hoffnungsvoll und freundlich und obwohl plötzlich von Tumordiagnostik die Rede ist, muss das alles gar nichts Schlimmes bedeuten. Eine Biopsie wird Klarheit bringen. Anna wartet und wartet - und wird immer ungeduldiger. Draußen fährt der Sommer zum ersten Mal auf, Anna will heim.

Es ist noch früh am Morgen, als sie ihre Diagnose erhält: Pankreaskarzinom. Anna hat dieses Wort noch nie in ihrem Leben gehört. In aller Ruhe beantwortet der Arzt ihre Fragen. Viele sind es nicht. Je mehr er erklärt, desto weniger versteht Anna. Die weiteren Schritte können eine Operation sein, danach eine Chemotherapie, nie aber ist von Heilung die Rede, immer nur von lebensverlängernden Maßnahmen. Fünf Jahre, in Annas Fall deutlich weniger. Anna fühlt sich wie betäubt, das muss ein Irrtum sein. Außerdem, das weiß sie, sollte man auch andere Meinungen einholen, erst recht bei einer solchen Diagnose. Der Arzt versichert ihr, das sei bereits geschehen. Sie erhält Lektüre und Telefonnummern, wo sie Hilfe und Unterstützung bekommt.

Wieder zu Hause bricht Anna zusammen, es folgen Tage, an die sie sich kaum erinnern kann, Tage wie in Trance. Tage, an denen sie stundenlang nur fernschaut, die Schubladen ihrer Schränke aufräumt oder einfach nur aus dem Fenster schaut. Wenn sie doch mal einschläft und aufwacht, hofft sie jedes Mal, nur schlecht geträumt zu haben.

Juli.

Anna wird regelmäßig untersucht, die ärztlichen Kontrollen machen ihr manchmal Hoffnung. Sie weiß jetzt alles über den Krebs. Sie hat alles gelesen, jeden Erfahrungsbericht, den sie finden konnte und alle Foren. Es gibt ein paar Leute, die mit dieser Diagnose gesund geworden sind. Anna geht es nicht schlecht, sie hält sogar wieder bei ihrem Lieblingsbäcker an. Nur der blöde Bauch wird immer dicker und dicker und die Medikamente, die sie jetzt einnehmen muss, machen sie oft antriebslos und müde. Aber Anna rafft sich auf, jeden Tag. Sie hat zu tun, sie wartet nicht einfach ab.

Die Temperaturen klettern auf fast 30 Grad. Strandbad, herrliche Tage am Wasser; die Hitze schmiegt sich an Anna wie ein Seidenkleid. Sommersprossen, Chlor im Haar. Der Bauch ist viel weniger aufgebläht. Anna flirtet. Freitag war sie im Baumarkt, am Samstag hat sie den Balkon neu arrangiert. Kleine Feuerkäfer krabbeln über die warmen Terrakottakacheln, Hummeln schwirren um die Minze.

September.

Anna hat sich gegen die OP entschieden. Der Arzt sagt, sie sei zu schwach. Der Zeit ein Schnippchen schlagen - davon war schnell keine Rede mehr. Man spricht jetzt immer öfter von Palliativmedizin.

Anna will nach Brasilien. Mit Mia. Es sich mal so richtig gut gehen lassen, den Sommer verlängern, Meer atmen. In Brasilien gibt es einen Mann, den viele Krebserkrankte aufsuchen. Dieser Mann sei kein Quacksalber, heißt es; dieser Mann sei ein Heiler, ein richtiger Heiler. Drei Wochen bleiben sie in Brasilien, es ist so schön, dass Anna am liebsten für immer bleiben würde.

Oktober.

An die schlechten Tage will Anna sich nicht mehr erinnern, die hat sie einfach aus dem Gedächtnis gestrichen: Der letzte Tag auf der Arbeit. Oder die Frau von der Seelsorge, die mit ihr über einen Platz im Hospiz sprechen wollte. Der Streit mit einer Freundin, die den Kopf schüttelte, als Anna ihr erzählte, endlich die Sache mit den Weisheitszähnen in Angriff zu nehmen. "Warum willst du dir das jetzt noch zumuten - in deinem Zustand?" Es klang wie: Wo du doch sowieso bald stirbst.

November.

Krämpfe, Tränen, Medikamente, Hoffnung, immer Hoffnung. Dazu tausend Fragen und Ideen, was Anna alles machen will, wenn sie wieder gesund ist. Ein kleines Auto kaufen. Mit Mia wieder nach Brasilien fliegen. Pläne machen. Auf allem liegt eine bleierne Müdigkeit.

Anna hat sich entschieden, jetzt doch ins Hospiz zu gehen. Alle dort sind sehr lieb und Anna findet, ihr Zimmer sei das freundlichste. Schwach ist sie geworden, noch schwächer, so schwach, dass sie für die kurzen Besuche in den Garten einen Rollstuhl braucht. Sie bekommt viel Besuch. Dünn ist sie geworden, aber ihre dicken braunen Locken wachsen wie Unkraut. Die muss sie richtig bändigen. Manchmal sagen ihr die Schwestern, dass sie auf Annas Haare ganz neidisch sind.

Weihnachten.

Anna ist guter Dinge. Sie hat von einer neuen Studie gelesen, an der sie unbedingt teilnehmen will. Sie denkt jetzt öfter über den Tod nach, aber viel mehr über das Leben. Es gibt noch viel zu sehen und zu tun und da sind noch so viele Dinge, die Anna klären muss.

Es gibt da etwas, was ihr manchmal fast mehr Angst macht als der Tod: Dass der Grund, warum sie mit 37 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte, sie selbst ist. Weil sie ein böser Mensch ist. Je länger sie darüber nachdenkt, desto sicherer ist sie sich. In einem Forum hat sie über die Psychosomatik ihrer Krankheit gelesen. Dort stand, dass der Groll, den schlechte Menschen in sich tragen, sich manchmal festsetzen würde. Wütende Menschen, gemeine Menschen, herzlose Menschen und Menschen, die schlecht hinter dem Rücken anderer reden, erkranken öfter an dieser Krebsart. Und genau das hat Anna getan. Schlecht über Lukas geredet. Den sie so mochte und der wegen ihr seine Freundin verließ. Und dann gab es da diesen Augenblick, als sie mit Lukas zum Geburtstag ihrer Mutter fuhr und er kein Geschenk dabei hatte. Weil es das erste Mal war, dass Anna ihn überhaupt mitnahm zu ihrer Familie, weil er ihre Mutter gar nicht kannte: Anna faltete ihn zusammen wie ein Rektor einen frechen Schuljungen.

Kam da der Krebs? Ist Anna selbst schuld?

Weihnachten fühlt sich das Hospiz wie ein Zuhause an, Silvester verschläft sie fast.

Februar:

Jeden Tag Besuch. Die Schwestern bitten Freunde und Verwandte, sich abzusprechen; es wäre schön, wenn jetzt immer jemand da wäre. Anna bekommt nun Morphium. Sie schläft viel, auf Filme im Fernsehen kann sie sich nicht konzentrieren. Sie liebt es, wenn Mia eine Freundin mitbringt und die beiden im Nebenzimmer kichern. Am meisten spielt sie mit ihrem Besuch Brettspiele, manchmal Schach, aber das dauert immer so lange. Dame ist gut, bei Mau-Mau wird es oft richtig lustig.

Als Anna eines Morgens erwacht, ist es noch sehr früh. Von ihrem Bett aus kann sie direkt in den Himmel schauen und plötzlich glaubt sie, in den Wolken etwas zu erkennen. "Siehst du das? Erkennst du das auch? Besen und Kehrichtschaufel", flüstert sie. Dieses 'Was siehst du in Wolken'- Spiel spielt sie gern mit Mia. "Das ist bestimmt ein Zeichen", sagt sie. Dafür, dass sie heimkommt.

In ein paar Wochen ist der Winter vorbei. Der Balkon will frühlingsfit gemacht werden, Besen und Kehrichtschaufel liegen direkt neben den Blumenkästen. Anna muss zu OBI. Frische Blumenerde kaufen. Und Minze. Und diese Solarlichterketten, das hatte sie schon letztes Jahr vor. Anna ist guter Dinge. Sie lächelt. Sie wird den Balkon flottmachen und die Hummeln werden wieder um die Minze schwirren. Dann schließt sie die Augen. Jemand, der sie liebt, hält ihre Hand. Anna stirbt kurz vor ihrem 38. Geburtstag - neun Monate nach der Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Auf dem Tisch liegen noch die Karten vom Vorabend. Anna hatte zwei Asse.

Quelle: ntv.de

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