Leben

Erzählte Erinnerungen "Die Stimme ist das Erste, was vergessen wird"

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Judith Grümmer lernte ihr Handwerk als Hörfunk-Journalistin.

(Foto: Susanne Müller-Geiger)

Seit 2004 arbeitet Judith Grümmer als Audiobiografin, sie hält die erzählten Lebenserinnerungen von Menschen auf Band fest. Oft entfalten diese Familienhörbücher ihre Kraft erst nach Jahren. Und manchmal kommen Geheimnisse zur Sprache.

n-tv.de: Was macht eine Audiobiografin genau?

Judith Grümmer: Ich gebe Menschen eine Stimme. Ich gehe zu ihnen oder sie kommen zu mir und erzählen mir ihre Lebensgeschichte. Jeder kann so lange erzählen, wie er oder sie möchte. Ich habe das Handwerkszeug einer Journalistin. Aber nichts von dem, was die Menschen mir erzählen, geht an die Öffentlichkeit oder auch nur an interessierte Familienmitglieder. Die Hoheit liegt komplett beim Erzählenden. Ich entscheide auch nicht, ob die Geschichte von Tante Klaras Suppentasse interessant ist.

Aber wie bearbeiten Sie dieses Material dann?

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Die Töne werden technisch bearbeitet, inhaltlich behält der Erzählende die Hoheit über seine Lebensgeschichte.

(Foto: Susanne Müller-Geiger)

Für mich ist wichtig: Ist es hörbar und ist es nachvollziehbar? Alles, was die Menschen erzählen, kommt auch in das Familienhörbuch, wie ich es nenne, hinein. Das Ganze wird aber dramaturgisch und tontechnisch so verarbeitet, als würde es gesendet werden. Ich habe auch keine Zeitbegrenzung, das heißt, die Hörbücher sind am Ende zwischen sechseinhalb und zwölf Stunden lang.

Wie lange sprechen Sie dafür mit Ihren Kunden?

Ich biete maximal drei Tage an, dann kommt die Erschöpfung und nach meiner Erfahrung ist dann auch das Wichtigste erzählt. Ich arbeite gern in der Eifel, die Leute wohnen hier im Hotel und ich richte mich nach ihnen. Manche erzählen lieber früh. Manche sind erst nachts um 12 in Erzähllaune. Dem passe ich mich komplett an.

Dass man seine Erinnerungen professionell aufschreiben lassen kann, ist ja nicht neu. Was ist bei Ihnen anders?

Die Authentizität - die Leute erzählen so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Bei der Verschriftlichung feilt man oft noch an Worten. Hier wird auch geschnitten, aber im Grunde genommen sind die Menschen so, wie sie sind. Sie werden in ihrer Art zu erzählen und zu reden festgehalten. Das ist sehr wertvoll, denn die Stimme ist das Erste, was vergessen wird, wenn die Menschen nicht mehr da sind. Es schwingt auch die Stimmung des Aufzeichnungsmoments mit. Das würde bei der Verschriftlichung verloren gehen.

Wer wendet sich an Sie?

Grundsätzlich sind eher die Enkel oder die Kinder, die das für ihre Eltern oder Großeltern wünschen. Es gibt aber auch Großeltern, die sagen, ich habe etwas zu erzählen und möchte das meinen Nachkommen hinterlassen. Oft sind es mittelständische Unternehmerfamilien, bei denen die Seniorchefs im Krieg oder kurz danach ein Unternehmen aufgebaut haben. Bei ihnen gehen Familien- und Unternehmensgeschichte oft ineinander über, das soll für die Nachwelt bewahrt werden.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie beispielsweise Familiengeheimnisse erfahren?

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Etwa drei Tage dauert es, die Geschichte eines Lebens aufzuzeichnen.

(Foto: Susanne Müller-Geiger)

Es gilt immer die Schweigepflicht. Ich achte aber vor allem im Zusammenhang mit Kindern darauf, dass der Nachwelt keine Aufträge erteilt werden. Dann ist das eine Belastung, das soll es nicht sein. Die Hörbücher sind aber so konzipiert, dass man sich aussuchen kann, welche Kapitel man wann hören möchte. Ich habe in Absprache mit den Erzählenden auch schon Hörbücher in zwei Versionen gemacht. Da fehlen in der einen Fassung deutlich erkennbar Kapitel, die man beispielsweise erst mit der Volljährigkeit hören kann. Je nachdem, wie die Erzählenden das regeln. Das Hörbuch ist das falsche Medium, um ein Familiengeheimnis aufzudecken. Das sollte man zu Lebzeiten und unter vier Augen tun. Aber sie kommen irgendwann raus und haben eine Wirkung. Und im Hörbuch kann man sich dazu nochmal die Deutungshoheit nehmen.

Inzwischen sprechen Sie auch auf Palliativstationen mit Menschen. Wie ist es dazu gekommen?

Ich finde es wichtig, dass vor allem junge Eltern, die wissen, dass ihr Leben begrenzt ist, ihren Kindern ihre Lebensgeschichte hinterlassen. Oder ihre Lebenserfahrung, oder einfach die Botschaft, dass sie sie lieben. Inzwischen gibt es dazu eine Pilotstudie des Zentrums für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn.

Was bringt das Menschen, die sich mit ihrem möglicherweise bald eintretenden Tod auseinandersetzen?

Es hilft, auf das eigene Leben zurückzublicken und zwar nicht auf das abgeerntete Feld, sondern auf die volle Scheune. Da ist ganz viel Freude, wir sprechen über die erste Tanzstunde, das Leben ohne Handy, die prägenden Erlebnisse der frühen Kindheit, die Lieblingsmusik. Es ist auch der Blick auf die Bewältigung von Lebenskrisen, die jeder Mensch ja nun mal durchmachen muss. Und sie können die Geschichte so erzählen, wie sie sie erlebt haben und wie sie in Erinnerung bleiben möchten.

Ist es für Sie emotional belastend, wenn jemand mit Ihnen spricht, der vielleicht nicht mehr lange zu leben hat?

Das Thema Palliativmedizin beschäftigt mich schon seit den 1980er-Jahren, ich habe 25 Jahre Medizinjournalismus gemacht und bin ausgebildete Palliativcare-Begleiterin. Ich habe gelernt damit umzugehen, verfüge selbst über Lebenserfahrung und habe auch Supervision. Nur weil ich die Palliativpatienten in einer schwierigen Situation kennenlerne, heißt das nicht, dass ich mitleide. Ich habe Mitgefühl, aber ich bin da professionell. Aber wenn mich etwas belastet, lasse ich mich beraten. Dafür gibt es auch die wissenschaftliche Begleitung. Außerdem kann man auch in dieser Situation das Leben feiern. Man muss die Tage mit Leben füllen und nicht das Leben mit Tagen, das klingt für Außenstehende oft banal. Wenn man aber in dieser Situation über das Leben spricht, bekommen diese Sprüche einen hohen Gehalt und Wert. Mir macht da kaum noch etwas Angst, ich kann selbst mit Menschen arbeiten, die schon im Sterbezustand sind. Ich habe das Gefühl, es ist gut, wenn ich komme und wir reden können.

Was kostet es, so ein Familienhörbuch zu machen?

Das liegt an der Arbeitszeit. Bei den Palliativpatienten innerhalb der Studie ist es kostenfrei, das ist mir wichtig. Ansonsten muss man zwischen 3500 und 5000 Euro plus Reisekosten rechnen.

Sie machen das seit 2004. Haben Sie bereits Reaktionen von Menschen bekommen, die diese Aufnahmen später gehört haben?

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Am Ende gibt es ein Familienhörbuch, das oft an die Nachkommen weitergegeben wird.

(Foto: Joachim Rieger)

Es gibt den Großvater, der seinen Kindern und Enkeln seine Geschichte hinterlassen wollte und sich beklagte, die hätten das gar nicht angehört. Bei diesem Mann bekam ich zehn, zwölf Jahre später eine E-Mail aus Australien, in der eine Enkeltochter einfach Danke sagen wollte. Das hat also manchmal eine Langzeitwirkung. Manche Leute heben ihre Audio-CD in ihrem Schreibtisch oder Safe auf und wenden sich dann wieder ihrem Leben zu. Die CD ist für die Kinder und die Nachwelt gedacht, wenn sie mal nicht mehr sind. Das ist eine Strategie. Ein andere ist, das direkt mit den Kindern oder dem Partner anzuhören.

Sie selbst sind verwitwet, haben Sie von ihrem Mann auch ein Hörbuch?

Nein, das wollte mein Mann nicht. Ich habe tatsächlich von meinem Mann nur eine Nachricht auf der Mailbox: "Judith, der Rollstuhl wird um 15 Uhr geliefert. Bist du dann vom Einkaufen zurück?" Und so langsam geht mir seine Stimme verloren. Ich habe noch ein paar Videos, die wir mit den Kindern gemacht haben, da ist die Stimme drin. Aber bei den Hörbüchern wird auch einfach mal gesagt: Ich liebe dich! Oder: Wir haben ein schönes Leben zusammen gehabt. Das habe ich nicht. Bei meiner Arbeit bin ich deshalb immer besonders glücklich, wenn es mir gelingt, dass meine Gesprächspartner nicht mehr mir etwas erzählen, sondern über mich den Angehörigen, dem Partner oder den Kindern.

Sind Sie schon mal gescheitert, hat jemand einfach nichts erzählt?

Nein, ganz im Gegenteil. Es ist eher umgekehrt, vor allem wenn Kinder oder Enkelkinder Großvätern das Familienhörbuch schenken. Die sitzen dann im Erstgespräch mit verschränkten Armen und sagen: Das war jetzt aber eine blöde Idee, ich will das gar nicht. Aber dann sitzen wir zusammen, beginnen zu reden und plötzlich haben sie doch Lust und alle Schleusen gehen auf. Das sind nämlich oft Menschen, die bisher wenig erzählt haben. Das ist ein bisschen so, als träfe man jemandem im Zugabteil von Hamburg nach München. Man hat diese wenigen Stunden und erzählt plötzlich wildfremden Menschen aus seinem Leben, weil man die hinterher nicht wiedersieht und weil es so gut tut, mal zu erzählen. Ich bin die Fremde im Zug.

Mit Judith Grümmer sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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