Leben

Straßenkunst für die Seele Die Vorleserin

Die Italienerin Chiara Trevisan liest Passanten in der Turiner Innenstadt vor.

Die Italienerin Chiara Trevisan liest Passanten in der Turiner Innenstadt vor.

Täglich kommt sie mit ihrem vollbepackten Fahrrad, richtet auf einem der schönsten Plätze Turins ihre Freiluftlesestube ein und wer will, lässt sich von ihr zwischen den Zeilen aus der Seele lesen. Chiara ist die Mary Poppins der Straßenpoesie.

Wer auf einer Bank in Piazza Carignano, einem der schönsten Plätze der norditalienischen Stadt Turin, Platz nimmt, kann Chiara gegen elf Uhr vormittags schon von Weitem kommen sehen. Mit ihrer bunten Aufmachung, dem witzigen oben offenen Hut, "damit die Gedanken frei herumschwirren können", ihrem lila Poncho und den Mary-Poppins-Schuhen ist sie kaum zu übersehen. Die Schuhe, sagt Chiara, seien "die perfekten Schuhe für eine Vorleserin". Ausgesucht hat sie ihre Tochter.

Aber auch das Fahrrad macht neugierig, mit dem Anhänger, in dem sich allerlei stapelt: ganz viele Bücher, zwei bunte Papphocker, eine Lampe, ein Teppich. Irgendwie muss man an Villa Kunterbunt denken. Nur, dass Chiara daraus ihre Freilichtlesestube hervorzaubert. Chiara Trevisan ist kein Mädchen mehr - sondern eine wenngleich sehr jugendliche 45-Jährige, die jeden, der Lust hat, in ihre bunte Bücherwelt führt. Wer auch nur für zehn Minuten der Hektik abschwört, der bekommt von ihr einen maßgeschneiderten Text vorgelesen.

An ihrem Arbeitsplatz spielt sich täglich das gleiche Schauspiel ab: Chiara stellt das Rad ab und beginnt mit der Einrichtung. Sie rollt einen Teppich aus, auch Hocker und Lampe kommen an ihren Platz. Dann checkt sie noch einmal die Bücher, ein kleiner Zettelkasten liegt ebenfalls griffbereit. Die Zettel sind in drei Themenbereiche sortiert: Titel, Wörter, Texte. Und wenn schließlich alles so steht, wie es soll, schreibt sie noch die Sprüche des Tages auf kleine Schiefertafeln. Heute gibt's auch diesen: "Wichtig ist nicht, alles im Kopf zu behalten, sondern zu wissen, wo man es finden kann".

"Ich verteile Vorlesungen"

Ein Mann, um die 30 Jahre alt, bleibt bei der Zettelkiste stehen, möchte sich einen mitnehmen. Chiara hält ihn davon ab, das seien keine Souvenirs, ermahnt sie ihn. Der Mann blickt verdutzt: "Ich dachte, sie verteilen sie". "Nein, ich verteile Vorlesungen", erwidert Chiara. Vorlesungen für die Seele.

Seit sechs Jahren sitzt sie hier. Sieht die Menschen auf Bauchhöhe an ihr vorbeigehen. "Ich liebe meinen Beruf", sagt sie. "Ich bin frei. Mache, was ich will. Und trotzdem ist meine Arbeit auch eine Herausforderung." Zum Beispiel dann, wenn zig Leute vorbeihasten, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken. Warum tut sie sich das an? "Weil ich Bücher und Literatur mit der Vatermilch aufgesogen habe", erwidert sie mit breitem Lächeln.

Turin mit seinem Wahrzeichen, dem Mole Antonelliana.

Turin mit seinem Wahrzeichen, dem Mole Antonelliana.

(Foto: imago/Westend61)

"Mein Vater hat meiner Schwester und mir immer vorgelesen", sagt Chiara. "Manchmal aus einem literarischen Klassiker, manchmal auch nur aus der italienischen Verfassung. Je nachdem, wie ihm gerade zumute war. Seit ich mich erinnern kann, besteht meine Welt aus Büchern." Die Italienerin selbst hat Theatergeschichte studiert und war stets davon überzeugt davon, dass es im Leben wie im Beruf auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ankommt.

Maßgeschneiderte Texte

Auch deshalb lädt sie ihre "Gäste" einzeln ein, bei ihr Platz zu nehmen. "Mir haben Bücher immer wieder aus Engpässen herausgeholfen", erklärt Chiara ihr Konzept. "Manchmal genügt schon eine Seite, ein Gedicht, um den Blickwinkel zu ändern. Und der Sinn der Zettel ist genau dieser: keine direkten Fragen, sondern über Umwege ans Ziel zu gelangen."

Wer sich die Mühe macht, in der Zettelkiste herumzustöbern, stößt beispielsweise auf Begriffe wie "Unabhängigkeit", "ansehen" und ein Zitat, in dem es um Grenzen und Fremde geht. Also eher politische Schlagworte als persönliche Gedanken. Chiara schaut sich die zusammenhanglosen Sprachfetzen nur einmal an, denkt kurz nach und liest dann das Gedicht "Beitrag zur Statistik" von der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska vor. Ein Auszug:

Auf hundert Menschen

zweiundfünfzig,
die alles besser wissen,

dem fast ganzen Rest
ist jeder Schritt vage,

Hilfsbereite,
wenn’s nicht zu lange dauert,
gar neunundvierzig,

beständig Gute,
weil sie’s nicht anders können,
vier, na sagen wir fünf,

die zur Bewunderung ohne Neid neigen,
achtzehn, […]

die ständig in Angst leben
vor jemand oder vor etwas,
siebenundsiebzig,

die das Talent haben, glücklich zu sein,
kaum mehr als zwanzig, höchstens,

die einzeln harmlos sind
und in der Masse verwildern,
über die Hälfte, sicher, […]

obwohl ich mich gerne irren würde,

Gebrochene, Leidgeprüfte,
ohne ein Licht im Dunkel,
dreiundachtzig,
früher oder später, […]

Bemitleidenswerte
neunundneunzig,

Sterbliche
hundert auf hundert.
Eine Zahl, die sich vorerst nicht ändert.

Man könnte sagen, Chiara hat die ganz besondere Gabe, zwischen den Zeilen der Seele ihres Gegenübers zu lesen. Die Italienerin verlangt für ihre Vorlesungen kein Honorar - wer will, der hinterlässt eine Spende. Die meisten tun das am Ende absolut gerne. Reich wird auf diese Weise sicher niemand. Doch es gibt Tage, da kommt es zu einer ganz besonderen Begegnung.

Chiara erzählt von einem älteren Ehepaar, das vor einiger Zeit bei ihr stehengeblieben ist. "Beide strahlten, wie ich selten Menschen strahlen gesehen habe. Sie suchten sich die Zettel aus, ich las ihnen dann eine Romanseite vor. Und erst am Ende sagte mir die Frau, dass diese Passage ein Volltreffer gewesen ist. Sie hatte soeben erfahren, dass sie von einer lebensgefährlichen Krankheit vollkommen genesen war."

Es muss einen Sinn haben

Solche Momente sind für Chiara die Bestätigung dafür, dass das, was sie macht, einen Sinn hat. Es gehe ihr weder um das Erscheinen per se ("Mag paradox klingen, ich bin aber eher schüchtern") noch ums Geld. "In Italien gehörten die Straßenkünstler bis vor nicht all zu langer Zeit noch zur Zunft der Bettler", sagt sie. Deshalb arbeitet sie auch mit kleinen unabhängigen Verlagen zusammen. "Wie meine erst 14-jährige, aber schon sehr kluge Tochter Zoe sagt, die wegen mir immerhin auf so manches verzichten muss: 'Mama, das ist okay, Hauptsache, es macht dir Freude und du kommst nicht hysterisch nach Hause'."

Obwohl - auch das kommt hin und wieder mal vor: wenn die Leute den ganzen Tag nur im Eilschritt an ihr vorbeirauschen. "Da packt es mich schon und ich sage mir: 'So jetzt höre ich endgültig auf'. Aber jedes Mal, wenn ich fast so weit bin, geschieht etwas." Dann schreibe ihr jemand auf ihren Blog, "oder er kommt nach Jahren wieder vorbei und sagt mir, 'Wissen Sie, das Gedicht, das sie mir damals vorgelesen haben, das hat mir später weitergeholfen'. Und was macht man da? Man macht weiter".

Quelle: ntv.de

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