David Graeber über Job-Tabus "Bei Bullshitjobs lebt man eine Lüge"
06.10.2018, 14:00 Uhr
David Graeber ist bekennender Anarchist und war einer der Vordenker der Occupy-Bewegung.
(Foto: Annette_Hauschild)
Wie kann es sein, dass ein großer Teil in unserer Dienstleistungsgesellschaft überzeugt ist, Tag für Tag einer absolut sinnlosen Tätigkeit nachzugehen? Dieser Frage hat sich Bestseller-Autor David Graeber angenommen. Ein Gespräch zwischen Lesung und Flieger.
"Bei Kaffee bin ich immer dabei, danke!" David Graeber legt seine Tasche auf den Tisch, läuft hin- und her, geht noch mal an die Luft und setzt sich schließlich zum Interview hin. Graeber ist müde. Gerade hat er auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin einer Schulklasse Fragen zu seiner Zeit bei "Occupy Wall Street" beantwortet und geduldig erklärt, dass zum Höhepunkt der Finanzkrise vor zehn Jahren durchaus schon der Großteil des Bankengeldes digital war und nicht in Scheinen und Münzen ausgegeben wurde. Jetzt hat er noch eine halbe Stunde Zeit für Fragen zu seinem neuen Buch "Bullshit-Jobs", bevor er weiter nach Paris muss. "Ja, der Zeitplan ist eng, aber in Paris wird’s noch schlimmer", lacht Graeber. "Aber am Wochenende habe ich frei, bin in Berlin und werde wohl mal in ein Spa gehen."
Graeber bezeichnet sich selbst als Workoholic, der seine Tätigkeit liebt. In "Bullshit-Jobs" beschreibt er Menschen, die in Jobs feststecken, die sie selbst als sinnlos und überflüssig empfinden. Wie der Angestellter eines IT-Subunternehmens der deutschen Bundeswehr, der schon mal 500 Kilometer fährt, um den Stecker aus einem Computer zu ziehen, das Gerät in eine Kiste zu tun und zu warten, bis ein Mitarbeiter eines anderen Subunternehmens den Karton den Flur runterträgt, und er den Computer wieder aufbauen darf. Ein Tag Arbeit für zwei Personen, damit ein Soldat den Flur herunter ein neues Büro beziehen kann.
Diese Geschichten packt Graeber in seinen bewährten Referenzrahmen, der wie in seinen Vorgängerbüchern aus Wissen über dem Aufbau der Gesellschaft in Mesopotamien, seinen Forschungsjahren in Madagaskar, bis hin zur Bibel und ökonomischen Lehren von Marx bis Keynes besteht. Diesmal gibt es jedoch etwas Neues: Nach 400 Seiten bietet Graeber eine Lösung für dieses Problem an - das bedingungslose Grundeinkommen. "Es erschien mir sinnvoll, hier zu intervenieren."
n-tv.de: Mit Ihrer These zu "Bullshit-Jobs" scheinen Sie nach Büchern wie "Schulden" wieder ins Schwarze getroffen zu haben, das Buch stößt auf riesiges Interesse. Das können das nicht viele Anthropologen von sich behaupten. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?
David Graeber: Ich glaube, die meisten Anthropologen versuchen erst gar nicht.
Warum nicht?
Das frage ich mich auch oft. Die meisten Forscher versuchen nicht einmal, eine größere Anzahl von Wissenschaftlern zu erreichen, geschweige denn ein größeres Publikum außerhalb ihres Forschungsbereichs. Ich glaube, es hat etwas mit Feigheit zu tun. Du kannst natürlich ein provokantes Buch schreiben, aber Du kannst dafür gefeuert werden. In den Universitäten herrscht eine Atmosphäre der Unsicherheit, alle haben Angst um ihren sicheren Job, ihren Studienplatz. Akademia wurde hier gezähmt, ist selbstreferentiell geworden.
"Schulden" war 2012 in Deutschland sehr erfolgreich, auch weil der Erscheinungstermin zusammenfiel mit dem Höhepunkt der Schuldenkrise in Griechenland, die hier viele Menschen beschäftigte. Trifft "Bullshit-Jobs" jetzt einen Nerv, weil wir hier so eine preußische Arbeitsmoral haben?
Hier sind es die Preußen, die so viel arbeiten?
Ja.
Interessant, bei uns sind es die Protestanten. (lacht)
Aber egal, wie wir sie nennen, woher kommt diese Vorstellung von Arbeit?
Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, da müssen wir tief in die Vergangenheit blicken. Selbst im alten Griechenland gibt es Mythen, wo Faulheit bestraft wird, der Sündenfall in der Bibel ist im Grunde auch eine solche Geschichte. Wir haben uns gegen Gott aufgelehnt, wurden zur Strafe aus dem Paradies vertrieben und mussten arbeiten. Arbeit ist dabei gleichzeitig eine Imitation dieses schöpferischen Gottes, weil wir auch etwas erschaffen und die Bestrafung dafür, dass wir ihm widersprochen haben. Arbeit ist also eine göttliche Tätigkeit, die wir aber unter Schmerzen und allgemeinem Elend ausführen müssen. Diese Idee gibt es also schon seit tausenden Jahren.
Umgekehrt ist der, der nicht arbeitet, ein fauler Parasit…
Genau. Und die Menschen glauben das wirklich. Wenn Du nicht hart arbeitest, selbst in einer Tätigkeit, die Dir nicht gefällt, oder Dir sinnlos erscheinst, verdienst Du Deinen Lohn nicht. Du bist kein wirklicher Erwachsener, kein Unterstützer Deiner Familie, Deiner Freunde. Du musst bei der Arbeit leiden. Ich ertappe mich selber bei solchen Gedanken. Wenn ich Bücher schreibe, Ideen sammele, lese, kann ich kaum glauben, dass ich dafür bezahlt werde, weil es mir einen solchen Spaß macht. Dabei ist eher die Frage: Warum nicht? Ich schreibe Bücher, die Menschen wirklich mögen. Als ob die Tatsache, dass ich Spaß bei meiner Arbeit habe, es mir verwehrt, Geld damit zu verdienen.
Gleichzeitig – und darauf weisen Sie auch in Ihrem Buch hin – werden oft sehr anstrengende und für die Gesellschaft nützliche Tätigkeiten unterdurchschnittlich bezahlt.
Ja, das ist geradezu pervers. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es akzeptabel ist, das Menschen, die der Gesellschaft sehr nützlich sind, wie Pflegepersonal, Müllabfuhr usw, weniger gut bezahlt werden, als andere. Gleichzeitig werden andere besser bezahlt, obwohl sie buchstäblich nichts in ihrer Arbeitszeit tun und auch noch unglücklich dabei sind. Im 19. Jahrhundert haben Arbeiter Wohlstand geschaffen. Heute geht man zumindest in den USA davon aus, dass Kapitalisten Wohlstand schaffen. Wie haben sie das geschafft? Das ist unglaublich.
Als wir über "Schulden" sprachen, haben wir auch schon über den alten Traum von Arbeitstagen, die nur aus drei bis vier Stunden bestehen, gesprochen. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Ich bin ein Workoholic, ich arbeite auch mal 14 Stunden am Stück. (lacht) Aber niemand sollte dazu gezwungen werden, so lange zu arbeiten. Es wäre bestimmt gut für mich, wenn ich rausfinden würde, wie ich regelmäßig fünf Stunden am Tag arbeiten könnte. Ich würde aber am liebsten ein halbes Jahr lang 12 Stunden täglich und dafür dann ein halbes Jahr gar nicht arbeiten.
Klingt auch gut, da bin ich dabei. Kinder haben oft sehr konkrete Berufswünsche. Sie wollen zur Müllabfuhr oder Feuerwehr oder Arzt werden. Es gibt diese Regel, wonach man einen guten Job danach definieren kann, wieviele Sätze man braucht, seine Tätigkeit einem Kind zu erklären.
Die Regel kenne ich auch. Tatsächlich kann man gute Jobs meistens in einem Satz erklären. Jemand hat auch mal gesagt: "Wenn Du am Titel nicht erkennen kannst, was die Person wirklich tut, dann tut sie vermutlich gar nichts." (lacht)
Warum gibt es so viele Berufe, in denen man das nicht mehr kann? Und die sind dann auch noch gut bezahlt?
Da sind wir wieder bei dieser perversen Arbeitsaufteilung. Ein Grund, warum man Feuerwehrleuten nicht soviel bezahlen muss ist, das es viele Menschen gibt, die diese Tätigkeit ausüben wollen. Sie ähnelt auch mehr der Art zu arbeiten, die es gab, bevor wir uns alle den Acht-Stunden-Tag auferlegten. Man arbeitete so lange, wie die Aufgabe es erforderte. Und dann tat man erstmal nichts und erholte sich. Diese "regulären" Arbeitszeiten sind unnatürlich. Eine sachbezogene Arbeit spricht vielleicht deshalb Kinder mehr an, weil sie natürlicher ist. Mir geht es, wie gesagt, auch so!
In Ihrem Buch liest man viele Beispiele von Menschen, die sehr unglücklich mit ihrer Arbeit sind. Daneben scheint es aber auch eine glückliche Minderheit zu geben, die tatsächlich ganz zufrieden mit ihrer "sinnlosen" Tätigkeit ist. Wie kommt es dazu?
Mir haben tatsächlich auch Menschen geschrieben, die in ihren Bullshit-Jobs ganz glücklich waren. Was sie gemeinsam hatte, war, dass fast keiner von ihnen beaufsichtigt wurde. Es ist also die Tatsache, dass jemand Dich zu einer sinnlosen Tätigkeit zwingt, die Dich verrückt macht.
Wenn Du aber Deine Zeit zum Beispiel anderweitig nutzen kannst, kann es in Ordnung sein, für eine sinnlose Tätigkeit bezahlt zu werden. Wie der Beamte in Spanien, der sechs Jahre lang Gehalt bezog, ohne das auffiel, das er in Wahrheit seine Arbeitszeit dafür nutzte, um Spinoza (Philosoph aus dem 17. Jahrhundert, Anm. der Redaktion) zu studieren.
Aber wer weiß, warum Menschen gerne zur Arbeit gehen, selbst wenn diese ihnen keinen Spaß macht oder sie sie als sinnlos empfinden – vielleicht hassen sie ihre Familien! (lacht) Was Bullshit-Jobs so qualvoll macht, ist die Tatsache, dass man eine Lüge lebt, die man nicht mal selbst ausgesprochen hat.
Das würde erklären, warum Menschen, die sich etwa besonders in großen Unternehmen in eine selbstgebaute Nische verkriechen und dort absolut nichts tun, eigentlich ganz glücklich sind.
Ja, sie leben ihre eigene Lüge. "Haha, ich trickse sie alle aus." Ist eigentlich ganz cool.
In Ihren Beschreibungen agieren die Menschen sehr passiv. Gibt es noch einen anderen Ausweg aus einem Bullshit-Job, als zu kündigen?
Ein Problem mit größeren Organisationen ist, das sie in der Regel sehr strenge Hierarchien haben. Keiner ist sich sicher, was er überhaupt sagen darf, geschweige denn, ob er etwas an seiner Situation ändern kann.
Verblüffend war, dass wenn ich die Leute fragte, ob die Vorgesetzten wüssten, dass sie absolut nichts täten, die Antwort immer war: "Ich bin nicht sicher, aber ich vermute, sie wissen es." Es scheint ein Tabu zu sein, darüber zu sprechen. Du kannst Steuern hinterziehen, aber Du kannst nicht mit deinem Chef darüber reden, dass Du nichts zu tun hast – das ist gesellschaftlich nicht akzeptiert.
Anders als in Ihren früheren Büchern schlagen Sie diesmal einen Ausweg aus dem Dilemma vor.
Ja, es schien mir sinnvoll, hier zu intervenieren. Für mich ist das bedingungslose Grundeinkommen ein wichtiges Anliegen, das aber immer mehr in den Hintergrund gerät. Es gibt jetzt etwa eine Initiative, die sich gegen das bedingungslose Grundeinkommen ausspricht und stattdessen eine Arbeitsplatzgarantie fordert. Wenn Du garantiert mehr Bullshit-Jobs schaffen willst, ist das meiner Meinung nach der sichere Weg dorthin!
Das gute am bedingungslosen Grundeinkommen wäre, dass es Bullshit-Jobs eliminieren würde, weil niemand mehr einen Grund hätte, so einen Job anzunehmen. Und es wird immer Workoholics geben, die in jedem Fall arbeiten werden. Aber wenn man den Unterstützern der Arbeitsplatzgarantien sagt, dass so etwas nur sinnlose Jobs schafft, werden sie ärgerlich und wollen, dass Du beweist, dass das passiert. Es ist ihnen so wichtig, das niemand ohne Arbeit davon kommt.
Wirklich arbeiten tun die Menschen in den beschriebenen Bullshit-Jobs aber nicht.
Bestenfalls tun sie so, als ob sie arbeiten. Aber das ist so moralisches Problem, das alle arbeiten müssen. Interessanterweise wird ererbter Wohlstand nicht kritisiert.
Mit David Graeber sprach Samira Lazarovic
Quelle: ntv.de