Wie ein Phönix aus der Wüste Europa krönt Conchita Wurst
11.05.2014, 06:37 Uhr
Conchita Wurst kann es kaum fassen: Sie gewinnt den Eurovisions-Gesangswettbewerb.
(Foto: dpa)
Vor einem Jahr stöckelte sie für RTL auf High Heels durch Afrika - jetzt trägt sie die Gesangskrone der Eurovision: Conchita Wurst. Ausgerechnet der La-La-Contest setzt mit der Wahl der Dragqueen ein politisches Zeichen.
Na, haben sie es schon begriffen? Falls nicht, sind sie vermutlich nicht allein. Manch osteuropäischer Provinzpolitiker zumindest dürfte ebenfalls noch nicht wieder auf dem Stuhl sitzen, von dem er bei der Bekanntgabe des Ergebnisses beim Eurovision Song Contest (ESC) am Samstagabend gefallen ist. Ja, es ist wahr: Der Sieger, nein, die Siegerin ist Conchita Wurst. Die österreichische Diva mit üppigem Damenbart, die als Tom Neuwirth geboren wurde, bekam aus ganz Europa insgesamt 290 Punkte. Damit verwies sie nicht nur die Niederlande (238 Punkte) auf Rang zwei und Schweden (218 Punkte) auf Rang drei, sondern auch alle weiteren 23 Starter im Finale in Kopenhagen auf die Plätze.
Die Gründe, weshalb man hierzulande ebenso wie in anderen Ländern Europas über den Sieg von Madame Wurst in Kopenhagen womöglich staunt, könnten allerdings unterschiedlicher kaum sein. In Deutschland hatte man, wenn überhaupt, von der Frau mit Bart bislang eigentlich nur bei einer Gelegenheit Notiz genommen - der RTL-Show "Wild Girls - Auf High Heels durch Afrika". Formate wie dieses mögen ganz gut sein, eine ins Stocken geratene Karriere wieder etwas anzukurbeln. Als Karrierestarter sind sie indes eher suboptimal. Seither klebte Conchita Wurst das Reality-TV-Etikett an. Dass sie aber eigentlich durchaus eine gute Sängerin ist, wusste bis dato kaum einer. Vielleicht ist diese Wahrnehmung auch der Grund, dass die Österreicherin von den deutschen Zuschauern "nur" mit 7 Punkten bedacht wurde, während sie viele andere Länder im Umkreis mit den vollen "twelve points" bedachten.
In Ländern der ehemaligen Sowjetunion stieß die Backenbartträgerin hingegen auf ganz andere Ressentiments. In Weißrussland etwa wurde eine Petition ins Leben gerufen, um den "beleidigenden" Auftritt der Österreicherin zu verhindern. Der St. Petersburger Lokalpolitiker Vitali Milonow tobte gegen die "europaweite Schwulen-Parade" beim ESC und nannte Wursts Teilnahme "unverhohlene Propaganda von Homosexualität und spirituellem Verfall". Und auch Armeniens Sänger in Kopenhagen, Aram Mp3 alias Aram Sargsyan, ließ sich zu der Entgleisung hinreißen, er müsse es wohl "irgendwie ertragen", mit dem Mann in Frauenkleidern auf ein und derselben Bühne zu stehen. Jedenfalls wenn doch kein Übersetzungsfehler vorlag, mit dem der Armenier später seine Aussage zu relativieren versuchte.
"We are unstoppable"
Vielleicht ist Conchita Wurst gerade wegen dieser Anfeindungen schon lange vor dem Finale in Kopenhagen zum Publikumsliebling avanciert. Dass ihr eine Welle der Sympathie und Solidarität entgegenschlägt, war in der dänischen Hauptstadt tagelang deutlich zu spüren. Vielleicht lag es aber auch am Fakt, dass man sich hier ohne die Bilder aus der Wüste im Kopf auf die Sängerin und Performance-Künstlerin einlassen konnte. Und natürlich am Song "Rise Like A Phoenix", der in bester James-Bond-Manier der Diva wie ihre Robe auf den Leib geschneidert schien und zu ihr passte wie der Bart zur Dame. Wäre es nach dem Publikum in der Halle gegangen, dann hätten Österreich, Griechenland, Spanien und natürlich Dänemark den Sieg im Finale wohl unter sich ausgemacht. Freaky Fortune Featuring RiskyKidd (Griechenland), Luth Lorenzo (Spanien) und Basim (Dänemark) landeten schließlich nur unter ferner liefen - Conchita Wurst jedoch überstrahlte am Ende tatsächlich alle.
Wer hätte das wirklich erwartet? Das beste Beispiel dafür, dass sich die Stimmung beim Live-Publikum nicht unbedingt auf die Abermillionen Fernsehzuschauer überträgt, lieferten vergangenes Jahr beim ESC in Malmö Cascada ab. In der Halle frenetisch umjubelt, strafte das TV-Publikum die deutsche Vertreterin seinerzeit mit einem 21. Platz ab. Insofern kann das Votum beim Song Contest in Kopenhagen wohl tatsächlich auch als politisches Signal gewertet werden.
Für die strahlende Siegerin jedenfalls besteht daran kein Zweifel. "Mein Traum ist wahr geworden", resümierte Conchita Wurst nach ihrem Triumph. Noch wichtiger sei jedoch die Botschaft, die davon für die Gesellschaft ausgehe - dass es "da draußen" Leute gebe, die an eine von "Frieden, Liebe, Toleranz und Akzeptanz" geprägte Zukunft glaubten. Ob sie ein Wort an Wladimir Putin richten wolle, fragte sogleich ein Journalist. "Ich weiß nicht, ob er zuschaut", zeigte sich Frau Wurst zunächst verlegen, schob dann jedoch noch hinterher: "We are unstoppable" - "Wir sind nicht aufzuhalten".
"It was right, but it went wrong"
So sehr man den althergebrachten Schlagerwettbewerb auch verlachen mag: Fingerzeige wie diese gehen in der Tat selten von Großveranstaltungen aus. Oder glaubt etwa jemand, dass bei der kommenden Fußball-WM das System Blatter ins Wanken geraten wird? Und auch sonst ließ es sich das ESC-Publikum in Kopenhagen nicht nehmen, den Wettbewerb auch für ein Statement jenseits des La-La-La zu nutzen. Mehrfach forderten die Moderatoren die Zuschauer in der Halle dazu auf, einfach "nur Spaß" zu haben, nicht durch die Musik bedingte Unmutsbekundungen sein und die Politik außen vor zu lassen. Genützt hat das wenig.
Das Punktegeschacher zwischen den ehemaligen Sowjetstaaten wurde ebenso laut mit Buhrufen bedacht wie allzu großzügige Berücksichtigungen Russlands. Allerdings mutet dies auch ein wenig abstrus an. Schließlich sind die skandinavischen Länder ebenfalls Großmeister darin, sich ihrer gegenseitigen Nachbarschaftsliebe in Form von vielen Punkten füreinander zu versichern. Und die gerade einmal 16-jährigen Tolmachevy Sisters, die in diesem Jahr für Russland antraten, konnten einem schon ein wenig leidtun, an Putins Politik trifft sie nun sicher keine Schuld.
Ach ja, da war ja noch was. Für unsere deutsche ESC-Hoffung Elaiza bleibt die Erkenntnis: "It was right, but it went wrong." Mit 39 Punkten reichte es für sie am Ende leider "nur" für den 18. Platz. An ihnen und am Song (Video) lag es nicht unbedingt. In anderen Jahren wären Elaiza damit vermutlich ein ganzes Stück weiter vorne gelandet. Doch 2014 war die Konkurrenz wirklich ausgesprochen stark. Hinzu kam das Pech, direkt nach Conchita Wurst starten zu müssen - zu einem Zeitpunkt, als in vermutlich jedem zweiten Wohnzimmer gerade noch der Auftritt der Dame mit Bart diskutiert wurde. Kopf hoch, Mädels. Ihr habt das gut gemacht.
Apropos Mädel: Glückwünsche an Frau Wurst! Vor Kurzem hätten wir ihr ja bestenfalls die Dschungelkrone zugetraut. Auf die gilt es nun wohl zu verzichten. Die Gesangskrone in den Händen zu halten, ist aber auch allemal mehr wert.
Quelle: ntv.de