"Tatort" mit Bootz und Lannert Deutscher Herbst revisited
14.10.2017, 18:57 Uhr
Szene aus "Der rote Schatten" mit Wilhelm Jordan (Elias Popp, M.) und Astrid Frühwein (Emma Jane, 2.v.r).
(Foto: SWR-Presse/Bildkommunikation/dpa)
Zum 40. Jahrestag der "Todesnacht von Stammheim" gönnt sich der Stuttgarter "Tatort" eine Geschichtsstunde. "Der rote Schatten" startet klassisch und entwickelt sich schnell zu einer ambitionierten, fesselnden Krimi-Collage.
Eigentlich beginnt alles ganz tatörtlich routiniert: ein Autounfall, ein blutender Fahrer, eine nackte Frauenleiche im Kofferraum. So weit, so tot. Rätselhaft wird es dann relativ schnell, als die Stuttgarter Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) erfahren, dass Marianne Heider, so ihr Name, schon vor einiger Zeit umgekommen ist und bereits in der Rechtsmedizin auf dem Tisch gelegen hat.

Stuttgarter "Tatort"-Team: Richy Müller als Thorsten Lannert und Felix Klare als Sebastian Bootz (v.l.).
(Foto: dpa)
Christoph Heider (Oliver Reinhard), ihr Ehemann und Fahrer des Wagens, hatte sie von dort entführt, um sie im Ausland einer erneuten Obduktion unterziehen zu lassen. Heider ist überzeugt davon, dass seine Gattin ermordet wurde, einen Täter hat er auch in petto, ihren neuen Liebhaber nämlich, den mysteriösen Wilhelm Jordan (Hannes Jaenicke). Als Bootz und Lannert die Ermittlungen aufnehmen, müssen sie feststellen, dass auch sie selbst beobachtet werden und der merkwürdige Fall sich zu einer beinah undurchschaubaren Angelegenheit ausweitet, deren Ursprünge bis in die 70er-Jahre zurückreichen.
"Todesnacht von Stammheim"
Genauer gesagt - bis ins Jahr 1977: In der "Todesnacht von Stammheim" kommen am 18. Oktober die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe unter ungeklärten Umständen ums Leben, fünf Tage zuvor hatten palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine "Landshut" samt Besatzung in ihre Gewalt gebracht, um die Freilassung dieser drei und weiterer RAF-Mitglieder zu erpressen. Am Tag nach den vermeintlichen Selbstmorden in Stammheim wird der entführte Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer in Geiselhaft ermordet. Die Geschehnisse gehen als "Deutscher Herbst" in die Geschichte der BRD ein.
40 Jahre später nimmt sich Regisseur Dominik Graf ("Die Katze", "Frau Bu lacht") der Thematik an und versucht den Kunstgriff, die damaligen Ereignisse mit einem aktuellen Fall zu kombinieren, unbeantwortete Fragen erneut zu stellen und einen dramaturgischen Plot-Bogen von 1977 bis ins Jahr 2017 ziehen. "Der rote Schatten" nennen Graf und Co-Autor Raul Grothe ihr Experiment, mit dem sie ein Stück unbewältigte deutsche Geschichte neu beleuchten.
Dabei versuchen sie gar nicht erst, den überbordenden Fundus an Fakten und Fragen, an Verschwörungstheorien und vermeintlicher Vertuschungen mit einer linearen Geschichte in den Griff zu bekommen, vielmehr verbauen sie die Ereignisse zu einem ebenso verwirrenden wie hochspannenden Vexierspiel voller Seitenstränge, Nebenschauplätze, voller Andeutungen und offener Enden, mal in schnellen Schnitten, dann wieder in Äbblwoi-verlangsamter Erzählszene.
Fiktion und Doku in Harmonie
So entsteht eine reichbebilderte Collage aus alten "tagesschau"-Aufnahmen, gibt es ein Wiedersehen mit Karl-Heinz Köpcke und Jo Brauner, sieht man noch einmal die grobkörnigen Filmaufnahmen des entführten Hanns Martin Schleyer, um seine Befreiung flehend, und die verwackelten Bilder der Festnahme von Baader und seinen Komplizen.
Erstaunlich dabei, ohne zu viel zu verraten, wie gut hier Fiktion und Doku harmonieren, wie passgenau die gestellten Super-8-Aufnahmen mit dem Originalmaterial zusammengehen und sich ebenso die Biografien der Figuren - Lannert, der an seine eigene Parka-Ära zurückdenkt, Jordan, der charismatische Choleriker und Astrid Frühwein (großartig: Heike Trinker), deren persönlicher Herbst 1977 immer noch andauert - mit dem großen Kontext verbinden. Ein ambitionierter "Tatort", der äußerst gekonnt Krimi-Entertainment mit Geschichtsstunde kombiniert, ohne dabei den didaktischen "So war es wirklich"-Zeigefinger zu erheben.
Quelle: ntv.de