Unterhaltung

Ukraine ringt Russland nieder Eurovision oder Absurdistan?

Wäre es nur nach den Zuschauern gegangen, hätte Russland die ESC-Schlacht gewonnen. Doch mit Schützenhilfe der Jurys geht die Ukraine als Sieger hervor. Und Deutschland? Das ist mal wieder der Buhmann.

Verquerer hätte der Eurovision Song Contest (ESC) kaum zu Ende gehen können - dem neuen Abstimmungsverfahren, das in Stockholm Premiere feierte, sei Dank. Hätten allein die nationalen Jurys das Sagen gehabt, hätte Australien den Wettbewerb haushoch gewonnen. Und das bei seiner erst zweiten ESC-Teilnahme mit Sängerin Dami Im und ihrem Pop-Ohrwurm "Sound Of Silence". Doch nachdem die Quasselstrippen aus allen 42 Teilnehmerländern ihr Jury-Votum mitsamt den Glückwünschen zur "fantastic show" abgegeben hatten, ging es ans Eingemachte. Jetzt packten die Moderatoren Petra Mede und Vorjahres-ESC-Sieger Måns Zelmerlöw die Zuschauerstimmen auf den Tisch - und zu den Jury-Wertungen obendrauf.

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Eine ganze Zeit lang durfte sich Australien als Gewinner wähnen.

(Foto: imago/ITAR-TASS)

Um das neue Punktesystem vollends zu begreifen, muss man vermutlich noch mindestens zwei Semester ESC-Wissenschaft studieren. Doch so viel ist klar: Die Zuschauer wirbelten das Ranking der Juroren kräftig durcheinander. Polen etwa, bis dahin Vorletzter, kraxelte auf einmal mit dem Jack-Sparrow-Double Michał Szpak und seiner Schauer-Schnulze "Color Of Your Life" auf den achten Platz. Russlands Bühnen-Klettermaxe Sergey Lazarev indes schaffte es, obwohl beim TV-Publikum die absolute Nummer 1, mit "You Are The Only One" nicht an Australien vorbei. Das gelang in der Addition der Jury- und Zuschauer-Punkte dafür Jamala aus der Ukraine mit "1944". Sie gewann den Contest - während sie bei einem reinen Televoting nur die Zweitplatzierte gewesen wäre.

Same procedure as last year

Für Deutschland machte da alles schon keinen großen Unterschied mehr. Klar, hätten lediglich die Zuschauer entschieden, hätte man sich einen drittletzten Platz mit Spanien geteilt. Doch weil bereits die Jurys Jamie-Lee und ihren Song "Ghost" mit gerade einmal einem Punkt - aus Georgien - und damit der roten Laterne bedacht hatten, blieb es auch mit den Zuschauerpunkten beim letzten Platz. Mal wieder. Und man weiß gar nicht, ob man nun zunächst Jamie-Lee bedauern oder aber der Vorjahres-Letzten Ann Sophie dabei helfen soll, ihren Rücken mal wieder gerade zu richten.

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Es hat nicht sollen sein: Jamie-Lee.

(Foto: dpa)

Die öffentliche Ursachensuche wird nicht lange auf sich warten lassen. Doch während man im Falle Ann Sophie noch den unglücklichen Umstand, als "zweite Wahl" eingesprungen zu sein, zur Erklärung heranziehen konnte, fällt einem bei Jamie-Lee nichts dergleichen mehr ein. Musste sich die Letzte von 2015 in Wien noch unangenehme Fragen zu Andreas Kümmerts Rückzug anhören, spielte das vorangegangene Hick-Hack um Xavier Naidoo in diesem Jahr während der internationalen Pressekonferenzen in Stockholm jedenfalls keine Rolle mehr. Das lag dann wohl doch schon zu weit zurück. Klar, werden einige nun trotzdem rufen: "Wären wir doch bloß mit Xavier Naidoo angetreten!" Den Beweis, dass es mit ihm besser gelaufen wäre, müssen sie schließlich nicht antreten.

"Big 5" ganz klein

Andere hausgemachte Schnitzer lassen sich bei Jamie-Lees ESC-Auftritt nicht ausmachen. Gesanglich gehörte die Deutsche zweifellos zu den talentiertesten Teilnehmern im diesjährigen Wettbewerb. Beim Bühnenbild wurde vielleicht nicht so tief in die Trickkiste gegriffen wie bei den Russen, dennoch war es liebe- und wirkungsvoll arrangiert. Und das Lied "Ghost" mag womöglich auch und gerade angesichts der fraglos starken Konkurrenz nicht das mit der größten Strahlkraft gewesen sein. Aber das mit 11 Punkten - und damit 30 Zählern Differenz zum Vorletzten - mit Abstand Schlechteste? Mit Verlaub, liebes Europa: Das ist beinahe so absurd wie das neue Abstimmungsverfahren beim ESC.

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In der Halle gefeiert, in der Abstimmung gefloppt: Spaniens Barei.

(Foto: dpa)

Trösten mag man sich vielleicht damit, dass auch drei andere der so genannten "Big Five", die als Hauptzahler der Eurovision stets für das Finale des Song Contests gesetzt sind, beinahe schon traditionell schlecht abschnitten. Großbritannien wurde Drittletzter. Italien landete auf Rang 16. Und die spanische Sängerin Barei, die mit "Say Yay!" in der Veranstaltungshalle "Globen" so frenetisch umjubelt wurde wie ansonsten nur der schwedische Lokalmatador Frans, wurde 22. Lediglich das als Mitfavorit gehandelte Frankreich schaffte es mit Platz 6 auf einen der vorderen Plätze.

Die Dinge zwischen den Zeilen

So unpolitisch wie sich der ESC gern selbst definieren möchte, so politisch ist und bleibt er zwischen den Zeilen. Für Jamalas Siegersong "1944" trifft das allemal zu. Russland protestierte gegen das Lied sogar bei der European Broadcasting Union (EBU), die den ESC veranstaltet. Doch die wusste nichts zu beanstanden - schließlich benutzt Jamala in ihrem Songtext nur in der Interpretation dehnbare Metaphern. Daraus, dass sie darin Bezug auf die Geschichte ihrer Urgroßmutter nimmt, die als Krimtatarin zur Stalin-Zeit von der Sowjetunion deportiert wurde, hat sie jedoch nie einen Hehl gemacht. Wohlwissend um die auch aktuell angespannte politische Lage zwischen Russland und der Ukraine.

Auch in der Pressekonferenz nach ihrem Triumph wusste Jamala auf die Frage, wie sie sich ihren Sieg erklärt, eine unangreifbare Antwort: "Ich wusste, dass man Menschen erreichen kann, wenn man die Wahrheit ausspricht." Mehrmals rang sie mit den Tränen, während sie das Schicksal ihrer Urgroßmutter sogar mit dem Holocaust verglich. Indirekt, versteht sich. Auf den ESC habe sie sich mit dem Soundtrack zu "Schindlers Liste" vorbereitet, so Jamala. Ein Landsmann wollte schließlich unumwunden wissen, ob sie denn für einen ESC auf einer freien Krim im kommenden Jahr wäre. Sie sei für den Contest in der Ukraine, wich die Sängerin aus.

Mahnende Worte des ESC-Direktors

Mit Verlaub, liebe EBU: Dass beim ESC nicht gesagt wird, was nicht gesagt werden darf, ist in etwa genauso abstrus wie Jamie-Lees letzter Platz und das neue Punktesystem. Dem allen die Krone aufgesetzt hat aber die Abstimmung und deren Verlauf selbst im Finale. Abgedrehter hätte wohl auch kein Fantasy-Autor die Story schreiben können, in der es nun wirklich ausgerechnet zwischen Russland und der Ukraine zum Showdown kommen sollte. Anders als in den vergangenen beiden Jahren gab es dabei auch in der Halle für Russland viel Jubel und keine Buh-Rufe. Doch der Party-Publikumsliebling musste geschlagen von dannen trollen, während seine wehklagende Kontrahentin mit Schützenhilfe der Jurys zur Siegerin wurde. Auch das ist in gewisser Weise eine politische Botschaft.

ESC-Direktor Jon Ola Sand übergab inzwischen den Staffelstab an die Ukraine für die Ausrichtung des Song Contests im kommenden Jahr. Dabei müsse für die Sicherheit aller Besucher und Berichterstatter garantiert werden, ermahnte er in ungewohnt deutlicher Form. Darauf wird sicher auch der russische Vertreter 2017 vertrauen. Aus deutscher Sicht indes sollte man vor einer Reise in die Ukraine vielleicht noch einen Abstecher nach Georgien in Erwägung ziehen. Liebe Georgier: Danke für diesen einen einzigen Punkt! Auch wenn das ebenfalls irgendwie absurd ist.

Quelle: ntv.de

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