Mit Erfahrungswissen zum Erfolg Der Monster-Jäger ist keiner
14.10.2014, 15:18 UhrFür Alexander Horn hat jedes zunächst noch so unverständliche Verbrechen eine Logik. Sie ist nur nicht immer auf den ersten Blick zu verstehen. Doch Horn und seine Fallanalytiker zerlegen die Tat so lange, bis der Täter Gestalt annimmt.
"Das Fernsehen liebt das Bild vom einzelgängerischen Kommissar, den der bürokratische Polizeiapparat nervt und der am liebsten eigene Wege geht; höchstens duldet er noch einen Partner, mit dem er seit Jahren zusammenarbeitet." Alexander Horn weiß ziemlich genau, wie sich die Menschen seine Arbeit vorstellen und diese Vorstellung könnte falscher kaum sein. Nicht zuletzt deshalb hat er "Die Logik der Tat" geschrieben, ein Buch über die Möglichkeiten und Grenzen der Fallanalyse jenseits von Film-Profilern und Monsterjägern.
Der 41-Jährige leitet die Abteilung K16 im Münchner Polizeipräsidium, die Dienststelle für Operative Fallanalyse (OFA) Bayern. Es ist eine kleine Spezialeinheit mit 15 Beamten. Horn ist inzwischen ein erfahrener polizeilicher Fallanalytiker. Auf diese Bezeichnung legt er Wert, weil sie beschreibt, was seine Arbeit ausmacht. Die Analyse eines schweren Verbrechens, das gerade erst geschehen ist. Noch ist der Täter oder die Täterin nicht gefasst.
Die Kollegen vor Ort bitten ihn und sein Team um Hilfe. "Wir beraten sie bei den Fragen: Was ist eigentlich passiert, warum ist es passiert und wen suchen wir?", beschreibt Horn, was er und die anderen Teammitglieder/Kriminalbeamten tun. Konkret bedeutet das mehrere Tage intensive Auseinandersetzung mit der Tat. Horn hat wesentlichen Anteil daran, dass das Vorgehen der deutschen Fallanalytiker inzwischen einem festen Plan folgt.
Intensive Debatten in kargen Räumen
Zunächst holen die drei bis fünf Beamten vor Ort alle Informationen ein, die zu diesem Zeitpunkt vorliegen. Sie sehen sich am Tatort um, lesen den Obduktionsbericht und mögliche Zeugenaussagen. Doch die eigentliche Arbeit spielt sich meist in kargen Räumen ab, damit nichts die Konzentration auf Tathergang und Täter stört. Gemeinsam und unabhängig voneinander bauen die Fallanalytiker Hypothesen auf, wie Täter und Opfer aufeinandergetroffen sein könnten, wie es zur Tat gekommen sein könnte.
Es sind kontroverse Diskussionen, bei denen Thesen vorgestellt, abgewogen und auch wieder verworfen werden. "In dem Versuch, das Rätsel zu entwirren, werden unterschiedliche Meinungen vorkommen. Davon leben diese Diskussionen auch, weil vieles denkbar ist, aber nur wenig wahrscheinlich. Das ist ein Prozess, der Stunden braucht und ausdiskutiert werden muss. Aber wir gehen auch erst dann auseinander, wenn wir es für uns vertreten können, die wahrscheinlichste Hypothese gefunden zu haben."
Im Lauf der Jahre hat Horn bestimmte Fehlerquellen identifiziert, die im schlimmsten Fall dazu führen, dass ein möglicher Täter in den Ermittlungen ausgeschlossen wird. "Man muss gut aufpassen, wenn man Informationen einordnet. Was sind tatsächlich Fakten, beispielsweise die Todesursache? Davon abzugrenzen sind Wahrnehmungen, dazu gehören Zeugenaussagen. Und die dritte Größe sind Hypothesen." Auf Zeugenaussagen verlassen sich Horn und sein Team nur sehr selten, Zeugen können irren oder lügen. Stattdessen zerlegen sie die Tat in einzelne Sequenzen: die Annäherung an das Opfer, der Angriff, die Kontrollgewinnung, die Phase der sexuellen Handlungen, die Tötung des Opfers und das anschließende Verhalten des Täters.
Erfahrung statt Intuition
Denn anders als in der landläufigen Vorstellung führt Intuition die Ermittler nicht zum Täter. Horn, der seine Laufbahn als Ermittler für Sexualstraftaten begann, definiert deshalb Intuition auch lieber als "Erfahrungswissen". "Sexuelle Tötungsdelikte sind an sich seltene Ereignisse, Gott sei Dank. Wir als zentrale Stelle haben aber ständig damit zu tun. Unsere Erfahrung ist also um einiges größer, als wenn ich vor Ort einmal im Leben damit zu tun bekomme." Diese Erfahrung auf die neue Situation zu übertragen und schnell einzuschätzen, was ist relevant, was nicht, das ist die besondere Fähigkeit der Fallanalytiker.
Im Lauf der Jahre hat Horn unzählige Fälle bearbeitet. Nicht in jedem Fall war ihm und seinen Kollegen ein schneller Erfolg beschieden. Martin N. beispielsweise tötete zwischen 1992 und 2001 in Norddeutschland drei Jungen. Zahlreiche weitere Kinder bedrohte und missbrauchte er. N. entführte die Jungen aus Schullandheimen, Häusern und Zeltlagern, sein Gesicht verdeckte er mit einer Sturmhaube, was ihm den Namen "Maskenmann" eintrug. Den Fallanalytikern war es zunächst gelungen, aus den auf den ersten Blick nicht miteinander zusammenhängenden Taten das Vorgehen eines Serientäters zu entschlüsseln.
Das Täterprofil las sich dann so: Der Mann war wahrscheinlich zwischen 1963 und 1974 geboren und hatte zumindest zwischen 1994 und 1997, als die sogenannten Wohnhaustaten begangen wurden, einen Bezug zu Bremen. Wahrscheinlich handelt es sich um einen durchschnittlich intelligenten Mann, der besondere Fähigkeiten im Umgang mit Kindern besaß und diese entweder in seinem Beruf oder durch eine Freizeitbeschäftigung erworben haben dürfte. All dies bestätigte sich, als die Soko Dennis Martin N. schließlich im Februar 2011 festnahm. Und dennoch bleiben auch im Fall des inzwischen verurteilten Martin N. noch Fragezeichen. Die Fallanalytiker bringen zwei weitere Taten mit ihm in Verbindung, doch die Ermordung eines Jungen in den Niederlanden und eines in Frankreich hat N. bisher nicht gestanden. Auch N.s Computer lieferte den Ermittlern bisher keine weiteren Anhaltspunkte, weil er mit einer Verschlüsselungssoftware geschützt ist.
Für Horn ist die Beratung der Soko Dennis trotzdem ein gutes Beispiel, den Wert seiner Arbeit zu zeigen. Ihm und seinen Kollegen war es gelungen, die verschiedenen Fälle trotz fehlender Sachbeweise über das Täterverhalten zusammenzuführen. Bei anderen Fällen wie den NSU-Morden fanden die Beamten zwar die richtigen Hypothesen, doch sie konnten nicht alle Kollegen überzeugen. Und in manchen Fällen ist das Team vom K16 trotz plausibler Hypothesen und Täterprofile dem Täter nicht auf die Spur gekommen. Horn vermutet trotzdem nicht das geniale Monster hinter den meisten Taten, sondern eher den netten Nachbarn.
Auch darin unterscheidet sich das echte Leben von den meisten Fernsehkrimis. Die schaut sich Horn schon seit Jahren nicht mehr an. "Es stellt sich natürlich die Frage, wie lange es tatsächlich gesund ist, diesen Beruf auszuüben und sich jahrelang mit schwersten Verbrechen zu beschäftigen." Viele internationale Kollegen sind inzwischen krank, keine Profiler mehr oder gar nicht mehr bei der Polizei. Bisher hat Horn seinen Weg gefunden, mit den Belastungen umzugehen. Wenn er nicht gerade an einem Fall arbeitet, zieht es ihn in die Berge. Nach 15 Jahren als Fallanalytiker weiß er: das oft mystifizierte Böse kann sehr banal, wenn auch nicht weniger grausam sein.
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Quelle: ntv.de