Aus Atem wird Luft Die Botschaft eines jungen Sterbenden
17.07.2016, 09:06 Uhr
Kalanithi mit seiner Frau und seiner Tochter.
(Foto: Suszi Lurie McFadden)
Mit einer tödlichen Diagnose wird die Zukunft zu einer unwahrscheinlichen Möglichkeit. Egal, ob man 86 ist oder 36, wie der Arzt und Neurochirurg Paul Kalanithi. Was zählt, sind die Gegenwart und die Liebe.
Wenn es um die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten geht, ist nichts so sicher wie der Tod. Im Moment der Geburt ist die unausweichliche Endlichkeit des menschlichen Lebens enthalten. Der Neurochirurg Paul Kalanithi kann dieser Erkenntnis noch das ärztliche Wissen hinzufügen, das er während seiner Ausbildung gesammelt hat.
Kalanithi ist gerade 36 Jahre alt und steht am Beginn einer außerordentlich vielversprechenden Karriere, als er auf einem CT deutliche Lungentumore und Verformungen der Wirbelsäule sieht. Es sind die Scans seines eigenen Körpers. Er hat Lungenkrebs im Endstadium, obwohl er nie geraucht hat. Kalanithi, der auch Biologie, englische Literatur, Geschichte und Philosophie studiert hatte und Zeit seines Lebens mit einem Leben als Autor liebäugelte, entschließt sich, ein Buch zu schreiben. Er nennt es im amerikanischen Original "When Breath Becomes Air" ("Wenn Atem zu Luft wird").
In den tagebuchartigen Aufzeichnungen berichtet er von den 14-Stunden-Tagen, die er als junger Assistenzarzt im OP und bei den Patienten verbringt. Er hat in Stanford, Yale und Cambridge studiert, immer mit besten Noten. Die Aussicht auf den Abschluss seiner Ausbildung und ruhigere Tage als Chefarzt oder in der medizinischen Forschung scheint in Reichweite. An seiner Seite ist Lucy, ebenfalls eine Ärztin. Ihre Ehe hat ein wenig gelitten, aber da ist immer noch Liebe. Dann kommt die Diagnose.
Was wäre, wenn
Kalanithi kennt die Prognosen: 70 bis 80 Prozent der Patienten mit Lungenkrebs sterben in den ersten zwei Jahren. Aber das sind meist ältere Patienten und Raucher. Er fragt sich, wie die Prognose für 36-jährige, nichtrauchende Neurochirurgen aussieht. "Bei drei Monaten hätte ich mich auf meine Familie konzentriert." Hätte er noch ein Jahr, würde er ein Buch schreiben. Hätte er noch zehn Jahre, würde er seine ärztliche Karriere fortsetzen. Er weiß es nicht. "In der Zwischenzeit verfolge ich die Dinge, die mich antreiben. Die Tatsache des Todes ist beunruhigend. Und doch gibt es keinen anderen Weg, als zu leben." Am Ende bleiben ihm noch 22 Monate, keine zwei Jahre.
In dieser Zeit durchläuft er Therapien, nach einer längeren Ausfallzeit kämpft er darum, als Operateur in den OP zurückkehren zu können und schafft es schließlich wieder. Und er wird Vater. Während Kalanithi sein eigenes Sterben akzeptiert, entscheiden er und seine Frau sich für ein gemeinsames Kind, wissend, dass er dessen Aufwachsen nicht begleiten können wird. Er hofft, lange genug zu leben, dass seine Tochter eine Erinnerung an ihn haben wird.
Zeit bekommt eine völlig neue Bedeutung in Kalanithis Leben. "Ich bin Neurochirurg, ich war Neurochirurg, ich war früher Neurochirurg und werde wieder Neurochirurg sein?" Wohl kaum, nächstes Jahr, nächste Woche, die Zukunft wird mehr und mehr zu einer unwahrscheinlichen Möglichkeit. Als er mit Studienkollegen den 15. Jahrestag seines Abschlusses feiert, weiß er schon: Mehr Jahrestage dieser Art wird er nicht erleben. Als Arzt habe er gelernt, ehrlich zu sein, aber immer noch etwas Raum für Hoffnung zu lassen, schreibt er. Als Patient nimmt er sich weiter das Recht, realistisch zu sein und trotzdem zu hoffen.
Schließlich wirken die Medikamente nicht mehr, Kalanithi stirbt in dem gleichen Krankenhaus, in dem acht Monate zuvor seine Tochter zur Welt gekommen war. Im Nachwort schreibt Lucy Kalanithi, ihr Mann sei bereit gewesen, zu sterben. Sein Buch war in den USA ein Bestseller und ist es hierzulande ebenso. Tatsächlich schreibt hier ein kluger, wenn auch nicht brillanter, aber eben todkranker Autor. Kaum ein Leser wird vom Schicksal eines Menschen unberührt bleiben, der auf alles hoffen durfte und dem am Ende kaum Lebenszeit bleibt, nur etwas davon umzusetzen. Im Angesicht des Todes freut sich Kalanithi am Lächeln seiner Tochter, an der Liebe seiner Familie. Geld, gesellschaftlicher Status, all die menschlichen Eitelkeiten haben hingegen jede Bedeutung verloren. "Wenn du in einem dieser vielen Momente im Leben einen Bericht deiner Selbst geben muss, sag, wer du warst, was du getan und der Welt bedeutet hast", schreibt Kalanithi an seine Tochter. Die Botschaft ist simpel, jeder kennt sie und glaubt doch, selbst noch viel Zeit zu haben.
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Quelle: ntv.de