"Wir haben so viel Zeit" Marina Keegans einsames Vermächtnis
16.03.2015, 12:03 Uhr
Marina Keegan , 25.10.1989 - 26.05.2012
(Foto: dpa)
Mit Anfang 20 denkt man, dass alles noch vor einem liegt, zu Recht. In Marina Keegans Fall war das leider nicht so - die 22-Jährige kam bei einem Autounfall ums Leben und hinterlässt ein literarisches Werk, das schreit: "Warum? Warum so früh?"
"Wir sind so jung. Wir sind so unglaublich jung. Wir sind 22 Jahre alt. Wir haben so viel Zeit." Marina Keegan hatte keine Zeit. Als sie diese Zeilen schrieb, wusste sie das noch nicht. Fünf Tage nach ihrem Abschluss mit Bestnote an der Elite-Universität Yale starb sie bei einem Autounfall. Gemeinsam mit ihrem Freund war sie auf dem Weg zum Geburtstag ihres Vaters. Ihr Freund fuhr nicht zu schnell, er hatte nicht getrunken, doch er schlief am Steuer ein. Der Wagen überschlug sich zweimal.
Keegan wollte ihrem Leben eine Bedeutung geben. Das Schreiben war ihr Werkzeug. Sie engagierte sich für die Occupy-Bewegung und mahnte die Entscheidung vieler Kommilitonen, dem Ruf des Geldes in den Finanzsektor zu folgen, nicht nur einmal an. Keegans bewegende Abschlussrede an der Universität wurde nach ihrem Tod zum Internet-Phänomen. Das Buch "Das Gegenteil von Einsamkeit" ist eine Sammlung ihrer Kurzgeschichten und Essays.
Kraft der Authentizität
Wenn Keegan "partnerlos, müde, wach" schreibt, geht es nicht um wilde Drogenerfahrungen. Ihre Texte sind keine Coming-of-Age-Literatur à la Helene Hegemann. Keegans Exzess ist die Angst vor einem einsamen Scheitern. Was sie treibt, ist die Zuversicht. Die junge Frau hatte bereits eine Stelle bei der renommierten Zeitung "The New Yorker", eines ihrer Stücke sollte bei einem Theaterfestival aufgeführt werden. Wenn Keegan über Leid sinniert, tut sie es nicht, um sich darin zu ergehen, sondern um es zu verstehen und besser zu machen.
Keegans Brillanz liegt sicher nicht in einer herausragenden Reife, mit der sie die Unentschlossenheit einer Generation reflektiert. Sie liegt in ihrer Unmittelbarkeit. Keegans Geschichten sind aus dem Leben gegriffen. Mal sinniert sie über seltsame Übernachtungen bei den Eltern in der Heimat, mal über eine nicht allzu große Liebe und die Erwartungen anderer. Sie schreibt von ihrer peinlichen Mutter, die ihre Glutenunverträglichkeit vielleicht zu ernst nahm, weil sie es gut mit ihr meinte, und von verzweifelter Sinnsuche. Keegan ist so selbstverständlich echt, wie andere scheinen wollen. Ihre literarische Kraft ruht in ihrer Authentizität.
"Genau das will ich im Leben"
Vielleicht ist Marina Keegan überbewertet. Vielleicht lässt sich ihre Geschichte einfach zu gut erzählen. Und vielleicht stecken hinter dem Namen einer legendären Hochschule, ein paar guten Kontakten, einem hübschen Gesicht und einem tragischen Schicksal bloß eine vorbildliche junge Frau unter vielen. Vielleicht.
Wenngleich viele ihrer Fans nicht unbedingt für Keegans politische Anliegen gestritten hätten, wurden sie jedoch von ihr berührt. "Wir haben kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit", schreibt Keegan. "Aber wenn es eins gäbe, könnte ich sagen, genau das will ich im Leben." Ihr großes Verdienst ist es, die Sorge junger Menschen an der Schwelle zum Erwachsen-Sein in eine optimistische Formel zu verpacken, die ohne zeitgebundene Floskeln auskommt. Nach Überforderung durch Wahlfreiheit, Orientierungslosigkeit durch Übersättigung und Unverbindlichkeit durch Social Media steht der kollektive Wunsch nach Gemeinschaft mit Sinn.
"Marina würde nicht wollen, dass man sich an sie erinnert, weil sie tot ist. Sie würde wollen, dass man sich an sie erinnert, weil sie gut ist", schreibt Keegans Professorin Anne Fadima im Vorwort des Buches. Die Texte sind gut. Doch Keegans Tod unterstreicht ihre Botschaft, die nun Tausenden zugänglich ist: "Wir dürfen nicht vergessen, dass uns immer noch alles offensteht. Wir können es uns anders überlegen. Von vorn anfangen."
Quelle: ntv.de