Hörbücher

Hinter der schwedischen Fassade Wenn die Idylle Risse bekommt

Für einen Sommer darf jeder einfach sein.

Für einen Sommer darf jeder einfach sein.

(Foto: picture alliance / dpa)

Eine aus der Zeit gefallene alte Dame und lauter junge Leute, die nicht erwachsen werden: die perfekte Konstellation für einen sorglosen Sommer. Bis die Welt unaufhaltsam eindringt: Marie Hermansons "Der unsichtbare Gast" ist ein fesselndes Hörbuch.

Alles beginnt mit Martina, die in einem Hotel jobbt. Die Arbeit ist hart und schlecht bezahlt, ständig sind die Zimmermädchen in Gefahr, auch noch diesen prekären Job zu verlieren. An einem Tag zittert sie bereits vor Müdigkeit und Erniedrigung, als sie auch noch die Exkremente eines Gastes im Waschbecken vorfindet. Endlich zu Hause angekommen, erfährt Martina von ihrer Vermieterin, dass sie aus der Wohnung ausziehen muss. Auch die Flucht zu ihren Eltern löst Martinas Probleme nicht, ihr früheres Kinderzimmer ist längst einem Hausumbau zum Opfer gefallen, und auch sonst haben die Eltern kaum Kapazität für die erwachsene Tochter.

Das Hörbuch ist bei DAV erschienen und kostet 19,99 Euro.

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Da kommt Tessan, eine frühere Schulfreundin, wie gerufen. Tessan, die Martina schon immer mit ihrer Abenteuerlust anstecken konnte, hat gerade alles, was Martina nicht hat: einen Job und ein Zuhause. Auf Gut Glimmenäs ist sie Mädchen für alles bei der hochbetagten Florence Wendmann. Und eh sich Martina versieht, lebt auch sie dort, als Wendmanns Sekretärin.

Auf Glimmenäs ist die Zeit stehen geblieben, irgendwann in den 1940er Jahren. Die Frauen tragen Kleidung aus dieser Zeit, es herrschen die Regeln von damals zwischen Herrschaft und Dienstboten. Das ist jedoch von großem Reiz, weil Florence Wendmann nicht mehr ganz bei sich ist. Wendmann "arbeitet" gemeinsam mit ihrem natürlich längst verstorbenen Vater Ernst an geheimen Projekten, die mit seiner Arbeit als Diplomat zusammenhängen. Viele Briefe müssen geschrieben werden, die dann im Küchenofen enden. Es werden imaginäre Festessen vorbereitet, deren Speisen nie aufgetragen werden und deren Gäste nie erscheinen, die Dame des Hauses legt sich am frühen Abend zu Bett und schwärmt am nächsten Tag von dem herrlichen Beisammensein.

Eine Phantasie wie eine Seifenblase

Der Ort hat seine ganz eigene Magie, alle Schwere des Alltags ist hier vergessen. Da verwundert es nicht, dass Glimmenäs immer mehr Menschen anzieht, nach Martina auch Judith, das magersüchtige Mädchen aus dem Unfallauto und schließlich Pontus, den gescheiterten Jungunternehmer und Andreas, den Biologen, der nicht einmal als Putzkraft einen Job findet. Sie alle kommen in der 40er Jahre Idylle zur Ruhe, Geld spielt keine Rolle, jeder arbeitet ein wenig, das Wetter ist herrlich. Doch schon bald legt sich bleiern eine Erkenntnis auf alle: "Glimmenäs ist eine Fantasie, die jederzeit zerplatzen konnte wie eine Seifenblase."

Da scheint Pontus die rettende Idee zu haben. Wie wäre es, wenn es einfach immer so weiterginge, bis zu Florences Tod und möglicherweise sogar noch darüber hinaus? Der Schlüssel könnte Florences Testament sein. Leider ahnt man schon, dass diese Überlegungen und die wachsende Zahl der Menschen bereits der Anfang vom Ende sind. Als Florence auch noch schwer krank wird, spitzen sich die Ereignisse zu, zumal sich ein totgeglaubter möglicher Erbe als quicklebendig erweist. Und natürlich birgt das Leben der alten Dame noch ein dunkles Geheimnis.

"Der unsichtbare Gast" ist gleichermaßen Märchen wie Thriller, Gesellschaftsroman wie Krimi. Jenseits der schwedischen Bullerbü-Schablonen zeigt Hermanson ein Land, das für junge Leute kaum noch die Chancen hat, die es noch der Elterngeneration bot. In dieser Welt, in der die "Wirklichkeit Scheiße" ist, scheint es keine Zukunft zu geben, nur die Vergangenheit. Für diese Befindlichkeit findet Hermanson eine präzise und trotzdem oft poetische Sprache. Britta Steffenhagen liest das mit rauer, manchmal sogar etwas schräger Stimme. Zwischen Martina und Florence liegt nur eine Nuance, die trotzdem alles verändert. Man könnte Steffenhagen stundenlang zuhören. Und wenn der letzte Satz verklungen ist, fühlt man sich ein wenig, als sei man von einer Zeitreise zurückgekehrt.

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Quelle: ntv.de

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