Gnade, Schwestern, Gnade! The Sisters of Mercy haben es geschafft


Die Schadensbegrenzung ist ihm geglückt: The-Sisters-of-Mercy-Frontmann Andrew Eldritch bei seinem Berlin-Auftritt am Donnerstagabend.
(Foto: IMAGO/Carsten Thesing)
Nach dem Abbruch ihrer Berlin-Show im Oktober versuchen sich The Sisters of Mercy an einer Wiedergutmachung. Am Ende ihres Wiederholungskonzerts dominiert jedoch vor allem eins: Erleichterung. Und der Wunsch, Frontmann Andrew Eldritch möge mit sich und seinen Fans Gnade walten lassen.
"Gimme Shelter" heißt nicht nur ein Paradesong der Rolling Stones. In ihren Anfangstagen nahmen The Sisters of Mercy auch eine kongeniale Coverversion des Lieds aus der Feder von Mick Jagger und Keith Richards auf, die durch die weitgehende Ersetzung des Worts "Children" durch "Sisters" im Text wie eine ureigene Hymne der Band anmutet.
Genauso hätte "Gimme Shelter" aber auch als Überschrift des Berliner Konzerts der Kultcombo um Frontmann Andrew Eldritch im Oktober vergangenen Jahres fungieren können. Der Auftritt war ein einziges Desaster. Eldritch mäanderte, stammelte und krächzte durch die Show, um sie nach knapp 40 Minuten schließlich abrupt abzubrechen. Dabei wusste man nicht so recht, ob man am besten selbst in Deckung gehen oder eher die schützende Hand über den offenkundig komplett derangierten Sänger ausbreiten sollte. Denn: Nein, dieses entwürdigende Schauspiel hatten weder er noch die altehrwürdigen "Sisters" noch deren Fans verdient.
Kein Einzelfall, um eine eigentlich verbotene Phrase zu dreschen. Wie zahlreichen Konzertreviews zu entnehmen war, verliefen die Auftritte der Band auch in anderen Städten in diesen Tagen ähnlich schaurig. Den Abbruch der Show jedoch hatte Berlin weitgehend exklusiv (in Köln erschien Eldritch erst gar nicht auf der Bühne). Und statt auf die Geld-zurück-Variante griffen die Veranstalter dann doch tatsächlich lieber auf die Möglichkeit eines Wiederholungskonzerts zurück, das nun am Donnerstagabend in der renommierten Columbiahalle über die Bühne ging.
Lichte Reihen, neuer Gitarrist
Obwohl das Konzert im Oktober als ausverkauft galt, wurden für die Neuauflage auch noch einmal fleißig frische Tickets verkauft. Man ging wohl bereits davon aus, dass sich so manche Konzertbesucherinnen und -besucher das zweifelhafte Vergnügen nicht noch einmal antun würden. Und tatsächlich blieben die Reihen diesmal eher licht, die 3500 Zuschauerinnen und Zuschauer fassende Columbiahalle war vielleicht zu drei Viertel gefüllt. Die Anspannung bei denen, die da waren, war dabei nicht nur zum Greifen zu spüren, sondern auch in so manchen Gesprächsfetzen zu belauschen: Was wird das heute bloß?
Man könnte die Antwort darauf im Großen und Ganzen unter dem Begriff "Schadensbegrenzung" subsumieren. Das ging schon einmal damit los, dass kurz nach 21 Uhr tatsächlich ein Quartett die Bühne betrat - bestehend aus Eldritch, Gitarrist Ben Christo, Turntable-Dreher Chris Catalyst und dem neu hinzugekommenen Gitarristen Kai, der normalerweise bei der Band Esprit D'Air in Lohn und Brot steht. Im Oktober hatte die Formation noch versucht, die Show als Trio zu wuppen - Eldritch hatte den Gitarristen Dylan Smith angeblich eine Woche zuvor inmitten eines Konzerts in London gefeuert.
Rein atmosphärisch war das - sicher auch für Eldritch - schon mal ein Gewinn, zumal nicht nur Ben Christo nach wie vor Rockstar-Posen wie aus dem Lehrbuch draufhat, sondern Kai auch noch den Eindruck vermittelt, als sei er einem "Gothic Rock"-Bildband entsprungen. Wie viel sein Gitarrenspiel tatsächlich zum Sound der Show beigetragen hat, ist allerdings schwer zu beurteilen - daran, dass sich die Musik anhörte, als käme sie nahezu komplett aus der vom eigentlichen Zeremonienmeister Chris Catalyst bedienten DJ-Pult-Konserve hatte sich im Vergleich zum Oktober nichts geändert. Kai hatte auch gar nicht so viel Zeit zum Spielen. Er war pausenlos damit beschäftigt, mit rudernden Armen das Publikum zu animieren.
"Ja, gleichfalls"
Eldritch selbst hingegen wirkte zwar nicht wie ausgewechselt, aber doch deutlich selbstbewusster und präsenter als noch bei seinem Desaster-Auftritt. Sogar zu ein paar Worten an das Publikum ließ sich der seit jeher wortkarge Multilinguist hinreißen. Als ihm ein Zuschauer "I can't hear you" entgegenrief, beantwortete er dies trocken auf Deutsch: "Ja, gleichfalls." Ob er den Zwischenruf wirklich verstanden hatte, darf bezweifelt werden. So oder so bescherte die Szene dem Konzert jedoch einen wohltuenden Slapstick-Moment. Und einen Moment der Auflockerung. Denn woran die Show nach wie vor bitterlich krankte, war Eldritchs Gesang.
Der vielleicht passendste Kommentar zum abgebrochenen "Sisters"-Auftritt im vergangenen Jahr kam von einem X-Benutzer: "Ich weiß nicht, was Andrew Eldritch so ruiniert hat, aber es hat ganze Arbeit geleistet." Jawohl, ganze - denn der 64-Jährige hat einfach keine Stimme mehr, um damit ernsthaft ein Konzert zu bestreiten. Schon gar nicht ein Konzert mit den Kultsongs einer Kultband, deren ursprünglichen Klang die Fans derart im Ohr haben, dass sie sie im Schlaf mitsingen können: "Alice", "Marian", "Temple of Love", "This Corrosion", "More" und more, more, more.
Eldritchs Gekrächze wurde nun geschickt kaschiert, indem Ben Christo dem Sänger stimmgewaltig unter die Arme griff. Damit es nicht ganz so auffällt, stellten sich die beiden oftmals dicht beieinander ans Mikrofon. Doch wirklich überdecken konnte dies natürlich nicht, dass der eigentliche Star auf der Bühne seinen Job an sich nicht mehr erledigen kann.
Eldritch fällt ein Stein von der Seele
Dennoch: In der Summe reichte es aus, dass nach knapp eineinhalb Stunden eine Woge der Erleichterung durchs Publikum schwappte. Als The Sisters of Mercy die Zuschauerinnen und Zuschauer mit "Lucretia My Reflection" und "This Corrosion" als Zugabe nach Hause schickten, brandete ihnen zwar kein frenetischer, aber doch ordentlicher Applaus entgegen. "Mitleidsapplaus", raunte ein Besucher nebenan hämisch. Aber dann wohl doch eher Applaus dafür, sich im Rahmen der Möglichkeiten redlich bemüht zu haben.
Auch Eldritch war anzumerken, wie ihm ein ganzer Wackerstein von der Seele plumpste. "Wir haben es geschafft", waren - abermals auf Deutsch - seine letzten Worte, ehe ihm ein freudestrahlender Roadie in die Arme fiel.
Aber: Apropos Arme. Der politisch definitiv nicht mehr korrekte Spruch "Keine Arme, keine Kekse" passt hier leider nur allzu gut. Keine Stimme, keine Konzerte. Das ist wiederum keineswegs hämisch gemeint, sondern einfach nur tragisch. Warum auch immer Eldritch, der 2015 schon einmal Auftritte wegen einer Kehlkopfentzündung absagen musste, mit 64 nicht mehr zu dem in der Lage ist, was etwa einem 16 Jahre älteren Mick Jagger noch immer spielend gelingt - komplette Touren dieser Art wären eine Farce. Hardcore-Fans werden die Darbietungen vielleicht dennoch weiter bejubeln. Sie könnten dann aber ebenso gut bei einer The-Sisters-of-Mercy-Coverband in jedem x-beliebigen Kirmes-Bierzelt ihren Spaß haben. Und das auch noch mit richtigem Gesang.
Deshalb: Bitte, bitte, Schwestern, lasst Gnade walten. Mit dem Andenken einer stilprägenden Band, Andrew Eldritch und den Fans. Alles andere wäre keine geringere Tragödie als die, dass The Virginmarys in diesem Text kaum Beachtung finden konnten. Das hätte die nur zweiköpfige Punk-and-Roll-Combo nämlich durchaus verdient gehabt, die als Vorband die Columbiahalle mal wieder kräftig schredderte - lediglich mit Schlagzeug, Gitarre und Stimme, versteht sich.
Quelle: ntv.de