

Aus amerikanischer Sicht ist alles klar: Angela Merkel "wurde zu einem Symbol des Triumphs der Freiheit, indem sie die erste Ostdeutsche geworden ist, die als Bundeskanzlerin einem vereinten Deutschland dient. ...
... Sie hat ebenfalls Geschichte geschrieben, als sie die erste Bundeskanzlerin Deutschlands wurde. Als leidenschaftliche Politikerin, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet, hat Bundeskanzlerin Merkel die Freiheit und den Wohlstand in ihrem eigenen Land, in Europa und weltweit gefördert."
So lautet die Begründung, als US-Präsident Barack Obama Merkel am 7. Juni 2011 im Rosengarten des Weißen Hauses die Freiheitsmedaille verleiht.
Die Stimmung an diesem Abend in Washington ist feierlich und locker zugleich. Entsprechend aufgeregt und aufgedreht scheint Merkel zu sein.
Deutlich wird dies, als Merkel ans Rednerpult tritt, um sich zu bedanken, es dann jedoch wieder freigeben muss, weil erst Obama sein Glas auf die Deutsche erheben will.
"Ich muss noch den Toast sprechen", sagt er. Merkel reißt den Mund auf ...
... und die Hände hoch. Es sieht nicht elegant aus. Aber es ist echt.
Von Merkel gibt es zahlreiche Szenen dieser Art, denn die echte Merkel blitzt immer wieder durch. Das liegt einfach daran, dass sie Stimmungen nicht gut unterdrücken kann.
Merkels Grimassen sind eines der wenigen Fenster, die sie gelegentlich öffnet. Denn die Bundeskanzlerin ist nicht bereit, private Gedanken und Gefühle öffentlich auszubreiten.
Homestorys gibt es weder aus Hohenwalde in der Uckermark, wo ihr Wochenendhaus steht, ...
... noch aus ihrer Privatwohnung in Berlin.
Es gibt kaum Bilder, die Merkel im Urlaub zeigen, keine Sommerinterviews am Ferienort, keinen Wolfgangsee, kein "Hol' mir mal 'ne Flasche Bier, sonst streik' ich hier".
Nach Kohl ...
... und Schröder ...
... haben die Deutschen nun seit sieben Jahren eine Bundeskanzlerin, der Anbiederung und volkstümliches Gedröhne fremd sind, ...
... die mit der Öffentlichkeit mitunter sogar zu fremdeln scheint.
Merkels Leutseligkeit hält sich in sehr engen Grenzen. Bei ihr bleibt das Private privat.
Merkels Verweigerung einer Selbstinszenierung als Privatfrau lässt viel Platz für Zuschreibungen. Die meisten davon haben eine mehr oder weniger gute Anbindung an ihre Biografie. Alsdann: ...
... Merkel, Jahrgang 1954, ist eine Pastorentochter. (Im Bild ihre Eltern auf der Zuschauertribüne des Reichstags. Merkels Vater verstarb 2011.)
In der DDR ging Merkel zwar nicht zur Jugendweihe, war jedoch - wie Millionen andere - Mitglied der FDJ. Angeblich war sie dort für "Agitation und Propaganda" zuständig. Sie selbst streitet das ab. (Das Bild zeigt sie, in der zweite Reihe, in der Mitte, 1971 mit Mitschülern in der zehnten Klasse der POS.)
Sie könne sich "nicht erinnern, in irgendeiner Weise agitiert zu haben", sagte sie in einem 2005 erschienenen Interviewbuch. "Ich war Kulturbeauftragte." (Dieses Bild zeigt Merkel 1973 nach dem Abitur beim Camping im brandenburgischen Himmelpfort.)
Wir wissen nicht, ob Joachim Gauck dieses Buch gelesen hat, jedenfalls glaubte er Merkel nicht. Bei einer Feier zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 2010 (zu einem Zeitpunkt also, als noch Horst Köhler Bundespräsident war) war er so liebenswürdig, ihre Erinnerung zu korrigieren - ...
... und zwar ausgerechnet, nachdem sie eine Laudatio auf ihn gehalten hatte. Wörtlich sagte Gauck, man habe in der DDR "nicht unbedingt Sekretärin für Agitation und Propaganda werden" müssen. Ihre spätere reservierte Reaktion auf den Vorschlag, Gauck solle Bundespräsident werden, mag hier ihre tiefere Wurzel haben.
Merkel war und ist Physikerin, ...
... sie war 1990 Regierungssprecherin unter Lothar de Maizière, dem letzten Ministerpräsidenten der DDR, ...
... kurz danach war sie Kohls "Mädchen", ...
... nämlich zunächst Ministerin für Frauen und Jugend im ersten gesamtdeutschen Kabinett, ...
... dann bis 1998 Umweltministerin, ...
... ab 1998 CDU-Generalsekretärin ...
... und nach Kohls Spendenaffäre die letzte Hoffnung der CDU.
Als Wolfgang Schäuble sich in der CDU-Spendenaffäre Anfang 2000 vor allem durch das Verhalten von Helmut Kohl zum Rücktritt gezwungen sah, wurde Merkel die neue CDU-Vorsitzende.
Als CDU-Chefin verordnete Merkel der Union ein neo-liberales Programm.
Bei der Bundestagswahl 2002 verzichtete sie nach langem Hin und Her zugunsten von CSU-Chef Edmund Stoiber auf die Kanzlerkandidatur.
Doch Stoiber scheiterte.
Bei den vorgezogenen Neuwahlen drei Jahre später führte kein Weg mehr an Merkel vorbei.
Merkel ging in eine Koalition mit der SPD, das neoliberale Programm war schnell vergessen. Die Liberalen und auch Kritiker in ihrer eigenen Partei werfen Merkel spätestens seit 2005 regelmäßig vor, die CDU "sozialdemokratisiert" zu haben.
Wahr ist, dass sie ihre Partei in wenigen Jahren so radikal modernisierte, dass einige selbsterklärte Konservative das Tempo nicht mithalten konnten.
Unter Merkel wird die Wehrpflicht abgeschafft, ...
... in einer spektakulären Kehrtwende nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima der Atomausstieg verkündet, ...
... und (zumindest auf einem CDU-Parteitag) eine Art Mindestlohn beschlossen. - Nur drei Beispiele aus einer lange Liste "linker" Themen, die Merkel kurzerhand übernommen hat.
Ernsthaften Widerstand erfährt Merkel für solche Kurswechsel in der CDU nicht. Nur die Konservativen fühlen sich von Merkel offenbar verunsichert - zu ostdeutsch, zu protestantisch, zu liberal, zu allem Überfluss noch eine Frau. Sie proben gelegentlich den Aufstand. Meist bleibt es bei einem Thesenpapier. Mitunter gelingt nicht einmal das.
Gelegentlich werden Merkel auch schwarz-grüne Ambitionen unterstellt. So unwahrscheinlich eine schwarz-grüne Koalition auf Bundesebene ist: Merkel wäre sie zuzutrauen.
Aus sozialdemokratischer Sicht ist Merkel die Frau, der die SPD das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl seit Gründung der Bundesrepublik zu verdanken hat.
Doch SPD-Chef Sigmar Gabriel macht auch deutlich, dass er Merkel mag: "Ich schätze an ihr, dass sie ihr Amt nicht wie eine Monstranz vor sich herträgt. Sie hat Selbstironie. Das macht sie grundsympathisch. Und sie ist sehr verlässlich."
Auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück will seinen Respekt für Merkel im Wahlkampf nicht verstecken. Er hat jedoch eine Metapher, die diesen Respekt ein wenig relativiert.
"Ich würde mich jederzeit in ein Flugzeug mit ihr als Pilotin setzen, da fühle ich mich sicher, denn sie hat mechanisch alles im Griff", sagte er. Und schränkte dann ein: ...
... "Aber man weiß nie, wo man landet."
Das mag daran liegen, dass für Merkel der Weg wichtiger ist als das Ziel.
In der Euro-Krise hat Merkel dies zur erklärten Strategie erhoben.
"Bevor ich einen schicken Schritt ins Abenteuer mache, müssen wir immer überlegen, kann ich das wirklich tun?", sagte Merkel beispielsweise im Oktober 2011. "Deshalb gelte ich manchmal auch als ein bisschen zögernd und langsam, ja."
Der Soziologe Ulrich Beck nennt dieses Zögern eine "Zähmungstaktik", die Kanzlerin nennt er "Merkiavelli". Den Sparkurs, den Merkel den Krisenstaaten mit dieser Taktik aufzwingt, kritisiert er als "knallharten Neoliberalismus".
Das Problem: Der Sparkurs führt die Krisenländer nur noch tiefer in die Rezession. Und so hat Merkels Agieren in der Euro-Krise sie im Ausland zu einer höchst umstrittenen Figur gemacht.
Immer wieder wird sie als blutsaugender Vampir dargestellt ...
... oder als Nazi, der wahlweise Italien ...
... oder Griechenland oder ganz Europa unterjochen will.
Der britische "New Statesman" nannte Merkel "Europas gefährlichste Regierungschefin".
An ihrer Unbeliebtheit im europäischen Ausland ist Merkel nicht ganz unschuldig. Sie selbst verbreitete das Märchen, dass Griechen, Spanier und Portugiesen früher als Deutsche in Rente gehen und mehr Urlaub haben.
In Deutschland brachte Merkels aggressiver Stil im Mai 2012 zwar nicht den erhofften Wahlsieg im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf, sorgte aber für anhaltend hohe Popularitätswerte der Kanzlerin.
Wenn auch nicht bei allen. Helmut Kohl wurde 2011 mit den Worten zitiert: "Die macht mir mein Europa kaputt".
Kohl ließ zwar später dementieren, dies gesagt zu haben. Doch dann gab er der Zeitschrift "Internationale Politik" ein Interview, in dem er die Bundesregierung hart anging. Ihr fehle ein außenpolitischer "Kompass". Für Europa und den Euro forderte Kohl ein "beherztes Paket klug gewogener und unideologischer Maßnahmen".
Inhaltlich hat Merkel ihre Spar- und Reform-Forderungen zwar nicht verändert, doch ihr Ton ist freundlicher geworden. Mittlerweile lobt Merkel die "großen Anstrengungen", die Italien unternommen habe, und sie erklärt, ihr blute das Herz angesichts des Schicksals der Griechen.
Dennoch ist noch immer unklar, was Merkel eigentlich will.
Europäische Witze über Angela Merkel sind nach wie vor nur selten so freundlich wie dieses Transparent, das von irischen Fußballfans auf dem Weg zur Europameisterschaft in Polen im Internet verbreitet wurde. Mit einigem Erfolg übrigens: Nach der EM wurde die Gruppe vom deutschen Botschafter in Dublin empfangen, ...
... und wer Ende August 2012 bei Google "Angela Merkel" eingab, dem wurde der Zusatz "thinks we're at work" angeboten - vor den Suchbegriffen "wiki", "beer" und "hitler".
Womit wir bei Gertrud Höhler wären. "Mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung erleben wir eine Einheitsfront in der deutschen Politik unter Führung einer Kanzlerin mit Erfahrungsvorsprung im Gleichschaltungsregime", schrieb die einstige "Kohl-Beraterin" im Sommer 2012 in einem hasserfüllten Buch über Merkel.
Höhlers Thesen über Merkel sind so abstrus, dass es sich kaum lohnt, darüber zu sprechen. Umso interessanter ist die Aufmerksamkeit, die ihr Buch dennoch bekam: ...
Jeder sieht in Merkel eine andere: Höhler sieht die machtgierige Ostlerin, die keine Bedenken hat, die Demokratie abzuräumen.
... Nach fast zwei Amtszeiten von Bundeskanzlerin Merkel, nach 22 Merkel-Jahren in der Politik, weiß Deutschland noch immer nicht so genau, wer diese Frau eigentlich ist.
Etwas weniger radikal, dafür stärker verbreitet, ist das Bild von Merkel als männermordende, eiskalte Kanzlerin.
Tatsächlich hatte sie keine Skrupel, ihren Ziehvater Kohl zur Seite zu schieben, ...
... und sie stellte Wolfgang Schäuble gleich zwei Mal ins Abseits: im Jahr 2000 als CDU-Chef, vier Jahre später als Anwärter auf das Amt des Bundespräsidenten (als sie den bis dahin völlig unbekannten Horst Köhler ins Amt hob).
Aber Merkel wird auch vorgeworfen, Friedrich Merz beseitigt zu haben, ...
... außerdem Christian Wulff, Roland Koch, Ole von Beust und all die anderen. Wie sie das tat? Nun ja, wenn man ehrlich ist, lag es in der Mehrzahl der Fälle einfach daran, ...
... dass sie im Amt blieb. Die Jungs, von denen die meisten Merkel zu lange unterschätzt hatten, suchten sich andere Spielwiesen.
In Merkel hätten die Deutschen den Kanzler gefunden, den sie immer haben wollten, schrieb der britische "Independent", und vermutlich stimmt das auch.
Ob es daran liegt, dass ihr Visionen völlig abgehen?
Denn Steinbrück hat recht: Merkel zieht nicht für politische Fernziele in den Kampf - schon gar nicht, wenn die Chancen ungünstig stehen.
Visionen sieht Merkel vermutlich als Privatsache an. Auffallend ist allerdings, dass sie immer wieder durchblitzen lässt, dass ökologische und klimapolitische Ziele ihr besonders wichtig sind.
Auf einem CDU-Parteitag im November 2011 spricht Merkel darüber, wie die Menschheit auf Kosten der Nachwelt konsumiert - obwohl es an dieser Stelle ihrer Rede nicht um Ökologie, sondern um Europa geht.
Und bei einer Feierstunde für Helmut Kohl im September 2012 betont sie auffallend stark die Gründung des Umweltministeriums unter Kohl 1986.
Man wird also davon ausgehen können, dass ihr die Energiewende tatsächlich am Herzen liegt. Nur - was folgt daraus? Wird Merkel die Energiewende auch dann noch verteidigen, wenn die Kritik daran ihre Mehrheit zu gefährden droht?
Für das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" stellten Prominente im August 2012 Fragen, die Merkel dann beantwortete. Der Kabarettist Dieter Nuhr wollte von Merkel wissen, ob sie stärker Macht oder Ohnmacht empfinde.
Die knappe Antwort zeigt, dass es kaum möglich ist, Merkels Nüchternheit zu übertreiben: "Weder noch, sondern die ständige Aufforderung, Probleme zu lösen. Und Zeitknappheit."
Merkel löst Probleme. An Gedanken über die Grenzen ihrer Macht verschwendet sie keine Zeit.
An jenem Abend in Washington hält Merkel unmittelbar nach Obamas Toast schließlich ihre Dankesrede, sie spricht über die Gefühle ihrer Eltern beim Bau der Mauer, darüber, dass sie sich in der DDR vorgenommen hatte, als Rentnerin in die USA zu reisen.
"Aber dass ich einmal im Rosengarten des Weißen Hauses stehen würde und dass ich von einem amerikanischen Präsidenten die Freiheitsmedaille empfangen würde, das lag jenseits aller meiner Vorstellungskräfte. Und glauben Sie mir: Diese Auszeichnung ist ein wirklich sehr bewegender Moment."
Merkel schafft es, diese Worte in einem monotonen Tonfall herunterzuleihern, der keinerlei Einblick in ihre Gefühlswelt zulässt. Sie hat sich wieder im Griff, sie ist wieder die Kanzlerin. Die private Merkel ist weg. (Text: Hubertus Volmer)