Junge Menschen leiden besonders Wie Einsamkeit in Deutschland zur "Volkskrankheit" wurde


In einer aktuellen Bertelsmann-Umfrage gibt etwa jeder zehnte junge Mensch an, sich sehr einsam zu fühlen.
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Einsamkeit ist ein Problem, das vor allem alte Menschen betrifft? Das war einmal. Inzwischen fühlt sich auch jeder zehnte junge Mensch in Deutschland sehr einsam. Doch es gibt Wege heraus aus der schmerzhaften Isolation.
Eine Rentnerin sitzt allein in ihrer Wohnung, niemand ruft an, nur einmal am Tag kommt das Essen auf Rädern. Vor die Tür kommt die Frau kaum, andere Menschen sieht sie nur selten: Geht es um das Thema Einsamkeit, denken viele noch immer an ein Problem, das vorrangig alte Menschen betrifft.
Dass das längst nicht mehr der Fall ist, zeigt eine Reihe aktueller Studien. In einer neuen Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) geben 36,4 Prozent der Befragten zwischen 18 und 53 an, sich zumindest teilweise einsam zu fühlen. Unter den 19- bis 29-Jährigen berichten 44 Prozent davon, öfter von Einsamkeit betroffen zu sein. Und eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung vom Juni zeigt, dass sich etwa jeder zehnte junge Mensch in Deutschland sogar stark einsam fühlt.
Aber was ist da passiert? Der Schweizer Psychologe und Psychotherapeut Prof. Udo Rauchfleisch führt die Entwicklung unter anderem auf die Corona-Pandemie zurück, in der Kinder und Jugendliche zeitweise nicht mehr zur Schule oder in Sportvereine gehen und ihre Freundinnen und Freunde treffen konnten. Viele junge Menschen seien so "aus ihrem sozialen Netz herausgefallen", erläutert er im Gespräch mit ntv.de.
Die Expertinnen und Experten des BiB bezeichnen dies als soziale Einsamkeit, also das Fehlen eines größeren Netzwerks wie zum Beispiel durch Freundschaften, Verwandte oder Kolleginnen und Kollegen. Einsamkeit unter Jugendlichen sei jedoch kein neues Phänomen und habe nicht erst in der Pandemie begonnen, meint Rauchfleisch. Die Corona-Zeit habe es lediglich greifbar gemacht: "Manche haben dort erstmals überhaupt gemerkt, dass sie einsam sind."
Die Corona-Zeit habe Prozesse beschleunigt, die allerdings längst dagewesen seien, sagt auch der Medienwissenschaftler Denis Newiak gegenüber ntv.de. Beispielsweise hätten soziale Medien wie Instagram oder Tiktok schon lange vorher dazu geführt, "dass junge Menschen sich in ihren Bubbles immer weiter voneinander abkapseln." Auch, dass viele Jugendliche nicht wüssten, wie sie mit Cybermobbing umgehen sollen, sei seit Jahren ein Problem. "Das Phänomen der Einsamkeit ist also nicht plötzlich vom Himmel gefallen." Vielmehr sei es durch den Einsamkeits-"Katalysator" Pandemie verstärkt worden.
"Die Moderne macht uns einsamer"
Die Corona-Lockdowns liegen nun mehrere Jahre zurück. Ausgehen, Freundinnen und Freunde treffen, zum Fußball-Training gehen: All das ist längst wieder möglich. Warum ist der Schleier der Einsamkeit geblieben, verstärkt sich sogar?
Das sieht Newiak vor allem in unserer immer komplexer werdenden modernen Welt begründet. "Im Grunde ist Modernisierung natürlich alternativlos, weil sie für viele Menschen ein gutes Leben bedeutet. Gesundheitsversorgung, sauberes Wasser, stabile Ernährung - all das bedeutet Moderne." Doch sie habe auch mehr globale politische Krisen, Klimakatastrophen und mehr soziale Anonymität in wachsenden Städten zur Folge: "Wir leben in Zeiten, die sehr unruhig und unübersichtlich geworden sind. Das erzeugt bei vielen Menschen mittel- bis langfristig ein hartes Gefühl der Machtlosigkeit."
Und für solche Ohnmachtsgefühle seien junge Menschen besonders anfällig, erklärt Rauchfleisch: "Sie ziehen aus dem Elternhaus aus, verlassen den Klassenverband und gehen in eine Berufswelt, die ganz neue Forderungen an sie stellt." In dieser ohnehin schon mit vielen Unsicherheiten verbundenen Umbruchphase sähen sich junge Menschen heute zusätzlich mit einer "ungewöhnlich unsicheren Zukunft" konfrontiert. "Das kann vielfach zum Zurückziehen, zu Ängsten und Schamgefühlen und eben auch zu Einsamkeit führen."
Außerdem seien junge Menschen in der Gesellschaft zuletzt stark aus dem Blick geraten. "Jugendliche haben nicht so eine große Lobby wie Kinder oder ältere Menschen. Jahrelang wurden Jugendzentren und andere Projekte geschlossen, weil es hieß, die brauche man nicht. Die müssen wir nun reaktivieren."
So schädlich wie 15 Zigaretten am Tag
Der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, drängt auf schnellere konkrete Maßnahmen gegen Einsamkeit. Denn längst sei sie zur "Volkskrankheit" in Deutschland geworden. Dass der Begriff Krankheit hier durchaus körperlich verstanden werden kann, erklärt Sabine Diabaté, Mitautorin der BiB-Studie. Ihr zufolge erzeuge Einsamkeit nämlich nicht nur sozialen Stress, sondern könne sogar zu physischen Schmerzen führen. Bei einsamen Menschen funktioniere die Immunabwehr nicht mehr so gut, außerdem steige das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle.
Eine Studie des Ministeriums für Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten (HHS) aus dem Jahr 2023 kommt zu dem Ergebnis, dass soziale Isolation so schädlich sein kann wie 15 Zigaretten am Tag. Die WHO stellte 2023 fest, dass einsame Menschen einem erhöhten Suizid-Risiko ausgesetzt seien. Die Gefahr dafür sei so hoch wie oder höher als das Todesrisiko durch Tabakkonsum, Fettleibigkeit oder Luftverschmutzung.
Deshalb sei die Pflege sozialer Kontakte genauso wichtig für die Gesundheit wie regelmäßiger Sport und eine ausgewogene Ernährung - insbesondere bei jungen Menschen, verrät Susanne Bücker. Denn, so die Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Universität Witten/Herdecke, wer als junger Mensch einsam ist, habe "ein hohes Risiko, auch im weiteren Lebensverlauf einsam zu bleiben".
Politik hat Warnsignale erkannt
Ob es das "Einsamkeitsbarometer" des Familienministeriums ist, das Strategiepapier gegen Einsamkeit der Bundesregierung oder die Forderung eines "Tags gegen Einsamkeit" der Berliner CDU-Fraktion: Auch die Politik hat verstanden, dass Einsamkeit ein zunehmendes gesellschaftliches Problem in Deutschland darstellt. Gleichzeitig wird die Stelle der ersten deutschen Einsamkeitsbeauftragten, Annabell Paris, nach nur vier Monaten im Amt neu besetzt. Inwiefern kann das Problem wachsender Vereinsamung also überhaupt auf politischer Ebene gelöst werden?
Zunächst einmal werde so auf das Thema hingewiesen, was ein wichtiger erster Schritt sei, mein Rauchfleisch. Dem müssten dann aber auch konkrete Projekte wie Treffpunkte und Begegnungsräume folgen - "und die brauchen Geld". Auch Newiak begrüßt die Idee eines Aktionstags gegen Einsamkeit als Symbol und Anstoßgeber für eine breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen. Doch auch er mahnt, dass vor allem Geld in die Hand genommen und viel mehr in die Forschung zu dem Thema investiert werden müsse.
Wege aus der Einsamkeit
Doch selbst, wenn sofort massiv in die Einsamkeitsforschung investiert würde, dürfte es wohl noch dauern, bis konkrete Maßnahmen im Alltag einsamer Menschen ankommen. Deshalb regt Rauchfleisch eine einfache Geste an, die schon jetzt dagegen helfen kann: sogenannte Zeitgeschenke. "Ich kann jemandem anbieten, gemeinsam etwas zu unternehmen." Wichtig sei, das nicht mit dem Hinweis zu versehen, "Ich glaube, du bist sehr vereinsamt." Denn der sei kränkend und führe häufig zu Scham und so zu einem noch stärkeren Rückzug der Person.
Und wenn man sich selbst einsam fühlt? Dann sei es ratsam, sich über verschiedene Angebote zu informieren. Ob das Besuchsdienste sind, Essen auf Rädern für ältere Menschen, oder auch Kurse oder andere Gruppen für junge Leute: "Es gibt da etliche Möglichkeiten. Wichtig ist, dass Betroffene an die Hand genommen werden und jemand da ist, der sagt 'komm, wir machen das jetzt mal gemeinsam'".
Zusammenzukommen, sich in Präsenz auszutauschen und so mit seiner Umwelt im Kontakt zu bleiben, hält auch Martin Bujard für einen wichtigen Schlüssel im Kampf gegen die Vereinsamung. Gerade für Jugendliche seien Klassenfahrten und Schulausflüge "unglaublich wichtig". Aber auch in Kitas, Schulen, Arztpraxen oder bei der Arbeitsagentur könne es Angebote zum sozialen Austausch geben, meint der Forschungsdirektor am BiB: "Das muss man einfach viel bewusster machen. Und da können alle, die in solchen Institutionen arbeiten, etwas beitragen."
Quelle: ntv.de