Unruhen am Schwarzen Meer Abchasien stürzt den Putin-Freund - und hält trotzdem zu Russland
23.11.2024, 11:27 Uhr Artikel anhören
Demonstranten mit den Flaggen von Abchasien und Russland vor dem Parlament in Sochumi.
(Foto: picture alliance/dpa/Aiashara Independent Agency via AP)
In Abchasien greifen Demonstranten das Parlamentsgebäude an und zwingen den Präsidenten von Georgiens prorussischer Separatistenregion zum Rücktritt. Anlass für die Wut ist ein Abkommen, das russische Investoren begünstigen würde. Der Protest hat Erfolg, Moskaus Einfluss aber bleibt.
Ein kleiner Landstrich an der Schwarzmeerküste ist der nächste Krisenherd im Osten. Abchasien hat nur etwa 250.000 Einwohner, die Region ist gerade mal halb so groß wie Thüringen. Für Russland ist Abchasien dennoch ein wichtiger Ort im geopolitischen Konflikt mit dem Westen.
Völkerrechtlich gehört Abchasien zu Georgien, doch die Regierung in Tiflis hat seit Jahrzehnten keine Kontrolle mehr über die Region. Abchasien wird von Separatisten kontrolliert - maßgeblich unterstützt von Russland, das Abchasien als unabhängigen Staat anerkennt und sich als Schutzmacht der Region versteht. Es ist dasselbe Muster wie in der Ukraine oder in Moldau.
Doch der abchasischen Bevölkerung ging es mit der Russland-Nähe jetzt etwas zu weit. Das ist vergangene Woche in der Hauptstadt Sochumi deutlich geworden. Demonstranten stürmten das Parlamentsgebäude. Die Polizei musste Tränengas einsetzen, um die wütende Masse zurückzudrängen. Erfolg hatten die Demonstranten trotzdem: Aslan Bschania trat wenig später als Präsident von Abchasien zurück. Der ehemalige KGB-Offizier stand seit 2020 an der Spitze des De-facto-Staates und ist ein Vertrauter von Kreml-Chef Wladimir Putin.
Deal mit Russland sorgt für Tumulte
Grund für die Proteste war ein Abkommen, das der Präsident im Oktober mit Moskau geschlossen hatte. "Es ging um einen Investmentdeal. Es ging darum, dass Russland in Abchasien Grundstücke und Hotelanlagen aufkaufen könnte, dass russische Oligarchen hier investieren könnten", erklärt der Osteuropa-Experte und Risikoanalyst Hannes Meissner im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Der Deal sah vor, dass russische Investoren bei Immobiliengeschäften acht Jahre lang von Zöllen und einem Teil der Steuern befreit werden. Eigentlich sollte das Abkommen in der vergangenen Woche ratifiziert werden. Doch dazu wird es jetzt nicht kommen.
Besteht nach den Protesten gegen das Abkommen nun sogar die Möglichkeit, dass sich die prorussische Region von Russland und dem Kreml abwendet? Nein, sagt Experte Meissner. Die Bevölkerung sei mehrheitlich prorussisch eingestellt. Auch diejenigen, die gegen die Zoll- und Steuererleichterungen für russische Investoren Stimmung gemacht haben, sind ihm zufolge im Kern auf Moskaus Seite.
Sie sind aber auch stolze Abchasier und haben in diesem konkreten Fall befürchtet, dass der Deal abchasische Unternehmen benachteiligt und den Ausverkauf der Region einläutet. Eine Schlüsselrolle habe der ehemalige russische Landwirtschaftsminister Alexander Tkatschow, führt Meissner aus. "Es besteht die Angst, dass Tkatschow mit seinem Milliardenvermögen schlichtweg das Land aufkaufen könnte, dass hier ein Ausbau der Hotelanlagen auf hohem Niveau stattfindet und die traditionelle abchasische Tourismusindustrie darunter dann leiden oder vielleicht sogar verdrängt werden würde."
Abchasien ist zumindest ein "teilweise freies Land"
Die Proteste zeigen, Abchasien ist ein Sonderfall im prorussischen Herrschaftsbereich. Anders als die Moskauer Schutzmacht ist Abchasien nämlich ein einigermaßen freies Gebilde "mit einem relativ offenen politischen Klima", sagt Meissner. Der beste Beweis sind die Proteste, die in Russland und in einigen anderen Postsowjetstaaten so nicht möglich gewesen wären. "Das US-Forschungsinstitut Freedom House hat das politische Klima in Abchasien zuletzt als 'teilweise frei' klassifiziert. In der Hinsicht ist es eher vergleichbar mit der Offenheit in Georgien, aber definitiv nicht mit der Russischen Föderation."
In Abchasien kämpfen viele verschiedene Netzwerke um Einfluss. Es gibt nicht den einen starken Mann, wie es Putin in Russland ist, sondern mehrere machtvolle Clans mit teils unterschiedlichen Positionen. "Häufig werden diese Clans von ehemaligen KGB-Agenten angeführt", sagt Meissner. Der Experte spricht im Podcast von einem "auf Loyalitäten basierenden politischen Gefüge, in dem verschiedene Personen im Mittelpunkt stehen". So habe sich eine zumindest "teilweise freie" Gesellschaft entwickeln können. Die abchasische Gesellschaft könne daher vergleichsweise offen darüber diskutieren, ob es Abchasien reicht, ein Anhängsel Russlands zu sein oder ob Abchasien etwas unabhängiger werden sollte.
Russland stützt und schützt Abchasien
Ein Abschied von Russland sei jedoch nicht zu erwarten, gibt Meissner zu bedenken. Es gebe einen breiten Konsens, dass die Kooperation gut und richtig ist. Denn die Alternative wäre der Mutterstaat Georgien vor der Tür. "Russland stützt das Land ökonomisch über Transferleistungen und über Touristen, die ins Land kommen. Auch das Sozialsystem ist im höchsten Maß davon abhängig. Und Russland schützt die nationale Unabhängigkeit, insbesondere gegenüber Georgien", erklärt der Abchasien-Kenner. Russland liefert günstiges Gas, bezahlt die abchasischen Beamten und hat Soldaten in der Region stationiert, um für Abschreckung zu sorgen.
Es gebe nach wie vor die große Sorge, dass der georgische Mutterstaat die Region eines Tages wieder eingliedern könnte. "Unter dem Einfluss von Bidsina Iwanischwili, dem prorussischen Regierungschef, kommt es derzeit tatsächlich zu Annäherungen", berichtet Meissner.
Aus Perspektive des Kremls ist diese Konstellation kein Problem. Der besondere Status von Abchasien als de-facto-staatliches Gebilde in den Grenzen Georgiens hilft Russland nur, solange Georgien nicht prorussisch eingestellt ist. Durch den erneuten Wahlsieg von Iwanischwilis Partei "Georgischer Traum" entwickelt sich die politische Lage in Georgien mehr denn je zu einer Win-win-Situation für Moskau. "Russland will Einfluss über Georgien gewinnen. Wenn man Georgien auf die eigene Seite bekommt, hier ein illiberales prorussisches System etablieren kann, dann ist der Westen aus dem Südkaukasus herausgedrängt. Und wenn Georgien auf die eigene Seite gebracht wird, braucht man Abchasien in dem Sinne nicht mehr so wie bislang", analysiert Meissner im Podcast. Derzeit sei die Grenze zwischen Georgien und Abchasien gewissermaßen auch "die geopolitische Grenzlinie zwischen westlicher und russischer Einflussnahme".
Drehbuch wie in der Ukraine und Moldau
Ohne die russische Schutzmacht ist Abchasien bislang nicht lebensfähig. Das eint Abchasien mit Südossetien, dem anderen Separatistengebiet innerhalb der georgischen Grenzen. Das hat Abchasien auch mit Transnistrien und Gagausien gemeinsam, den beiden autonomen Gebieten auf dem Staatsgebiet der Republik Moldau.
So ist Russland seit 2014 auch auf der Krim und im Donbass vorgegangen. Die Halbinsel wurde besetzt und im ukrainischen Osten wurden Separatisten unterstützt. Damit wurde der Weg für die Invasion der Ukraine bereitet. In allen Fällen ist das russische Drehbuch ein und dasselbe: Das Putin-Regime will postsowjetische Länder destabilisieren und sie mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten im eigenen Einflussbereich halten.
Einen solchen Plan verfolgt Moskau auch in Georgien, ist Meissner überzeugt. "Ich vermute, dass Russland auch hier eine langfristige Strategie verfolgt. Diese Strategie zielt darauf ab, über hybride Konflikt- und Kriegsführung Nachbarländer unter die eigene Kontrolle zu bringen und den Westen herauszudrängen. Der Südkaukasus ist ein proklamierter russischer Hegemonialbereich."
In Georgien scheint diese Strategie aufzugehen, trotz der Proteste in Abchasien. Russland müsse teils einen Schritt zurück akzeptieren, um zwei Schritte nach vorn zu machen, verbildlicht Meissner die Situation. In Abchasien sind russische Immobilienhaie offensichtlich nicht willkommen, russische Touristen aber sehr wohl. Das günstige Gas nimmt Abchasien genauso gerne, das Geld für die Beamten ebenso und die stationierten russischen Soldaten sind ohnehin unabdingbar, damit ein international isolierter Landstrich überleben kann.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de