Politik

Reden mit den Taliban? "Abschiebungen nach Afghanistan wären ein Drahtseilakt"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Die Taliban wollen diplomatische oder zumindest konsularische Kontakte mit westlichen Staaten aufnehmen, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Dafür würden sie auch über Abschiebungen reden.

Die Taliban wollen diplomatische oder zumindest konsularische Kontakte mit westlichen Staaten aufnehmen, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Dafür würden sie auch über Abschiebungen reden.

(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Union und FDP fordern Abschiebungen nach Afghanistan - nicht nur von Straftätern. Die Lage in Afghanistan unter den Taliban sei sicherer als noch vor einigen Jahren, argumentiert etwa FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Afghanistan-Experte Thomas Ruttig widerspricht. Selbst der Attentäter von Mannheim könnte von den Taliban als Todfeind angesehen werden.

Bislang geht es in der Diskussion vor allem um Schwerkriminelle. Sowohl die Landesinnenminister als auch die Ministerpräsidenten haben sich bei ihren jeweiligen Konferenzen in dieser Woche für Abschiebungen von Straftätern nach Afghanistan ausgesprochen. Allerdings hat Deutschland keine diplomatischen Beziehungen zu den Taliban. Ruttig sagt, die Taliban würden ein Gesprächsangebot aus Deutschland sicher annehmen. Er hält es auch für richtig, mit den Taliban zu reden. "Aber damit ausgerechnet beim Thema Abschiebungen anzufangen, finde ich sehr bedenklich."

Thomas Ruttig ist Mitbegründer der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Er hat insgesamt 13 Jahre in Afghanistan gelebt, unter anderem als Mitarbeiter der DDR-Botschaft, der bundesdeutschen Botschaft und der UN.

Thomas Ruttig ist Mitbegründer der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Er hat insgesamt 13 Jahre in Afghanistan gelebt, unter anderem als Mitarbeiter der DDR-Botschaft, der bundesdeutschen Botschaft und der UN.

(Foto: privat)

ntv.de: Das Taliban-Außenministerium hat mitgeteilt, man sei offen für eine Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden. Hat Sie das überrascht?

Thomas Ruttig: Nein, überhaupt nicht. Die Taliban suchen nach Möglichkeiten, diplomatische Kontakte mit dem Ausland herzustellen. Das ist eines ihrer wichtigsten politischen Ziele: diplomatisch anerkannt zu werden als Islamisches Emirat, wie sie sich selbst bezeichnen. Ein Gesprächsangebot würden sie sicher annehmen.

Wie viele Staaten haben denn schon diplomatische Beziehungen zu den Taliban aufgenommen?

Offiziell anerkannt hat das Taliban-Regime bisher kein Staat. Bislang gibt es einen UN-Konsens, der auch von Russland und China eingehalten wird: Für eine Anerkennung müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden, darunter eine politisch und ethnisch inklusive Regierung und zumindest eine Rücknahme der gröbsten Einschränkungen von Menschen-, insbesondere Frauenrechten. Aber der Graubereich ist groß. Einige Länder sind dicht an diplomatischen Beziehungen mit dem Taliban-Regime, darunter Russland und China. Als Chinas Präsident Xi im Januar in einer großen Zeremonie Botschafter empfangen hat, um ihre Beglaubigungsschreiben entgegenzunehmen, war darunter auch der von den Taliban nach Peking entsandte Vertreter.

War das nicht gleichbedeutend mit einer offiziellen diplomatischen Anerkennung?

Das ist knapp davor. Eigentlich ist es international nicht üblich, Regierungen anzuerkennen, sondern Staaten. Aber manchmal werden auch neue Regierungen anerkannt, oder auch nicht, um ein politisches Signal zu setzen. Das haben wir beispielsweise nach den Militärumstürzen in Westafrika gesehen. So ähnlich wird das auch mit den Taliban gehalten.

Eine Taliban-Delegation war erst kürzlich auf einem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg.

Ja, Russland will die Taliban von seiner Liste der als terroristisch eingestuften Organisationen streichen. Das ist ein Schritt in Richtung Anerkennung. Die USA und auch die UN haben die Taliban als Ganzes übrigens nie auf eine solche Terrorliste gesetzt. Sie verhängten nur Sanktionen gegen einzelne Talibanführer - auch, um sich die Möglichkeit für Verhandlungen offenzuhalten. Solche Verhandlungen gab es dann ja auch zwischen den Taliban und den USA und führte zum Abkommen vom Februar 2020 über den vollständigen Truppenabzug aus Afghanistan. Das leitete dann die Machtübernahme der Taliban im August 2021 ein.

Auch Nachbarländer unterhalten keine diplomatischen Beziehungen zum Taliban-Regime?

Nicht offiziell, aber viele Länder in der Region haben Taliban-Diplomaten empfangen: die Türkei, der Iran, Pakistan und einige der zentralasiatischen Republiken. Diese Länder haben nach wie vor meist auch eigene Botschafter in Kabul. Andere Länder, darunter die USA, haben Botschafter oder Geschäftsträger für Afghanistan, die aber nicht dort residieren, sondern in einem Nachbarland oder in Katar, wo die Taliban ein Verbindungsbüro haben. Einige dieser Länder erlauben ihren Botschaftern, nach Afghanistan zu reisen, um dort Gespräche zu führen, etwa Großbritannien, Japan und die Schweiz. Andere Länder machen das nicht. Wenn die sich mit den Taliban treffen wollen, tun sie das, wie im Fall der USA, meist in Katar.

Gibt es denn Treffen zwischen deutschen Vertretern und Vertretern der Taliban?

Die USA informieren in der Regel darüber, wenn es Gespräche mit den Taliban gegeben hat. Von deutscher Seite ist mir dazu nichts bekannt.

Friedrich Merz hat vor zwei Wochen im Bundestag gesagt, die deutsche Entwicklungshilfe für Afghanistan laufe über sogenannte technische Kontakte. Und er fragte, warum diese Kontakte "nicht auch einmal dazu genutzt werden, Rückführungen nach Afghanistan zu ermöglichen".

Da hat sich Herr Merz etwas vereinfachend ausgedrückt. Es gibt von deutscher Seite keine Entwicklungshilfe für Afghanistan. Es gibt humanitäre Hilfen, die über die Vereinten Nationen läuft. Die verteilt sie dann in Afghanistan. Beispielsweise über ihre Spezialorganisationen wie das UN-Kinderhilfswerk UNICEF oder das Welternährungsprogramm, zum Teil auch über große, bekannte und für diese Aufgabe zertifizierte Nichtregierungsorganisationen wie Save the Children.

Glauben Sie, dass die Taliban Schwerverbrecher zurücknehmen würden?

Ich kann es mir vorstellen, weil sie dies tun würden, ihrem übergeordneten Ziel untergeordnet, um diplomatische oder zumindest konsularische Kontakte mit westlichen Staaten aufzunehmen. Möglicherweise würden sie Straftaten, die diese Personen im westlichen Ausland begangen haben, anders bewerten. Allerdings werden sie sich aus den genannten diplomatischen Interessen derzeit hüten, so etwas offiziell zu äußern. Aber insgesamt ist das politische Handeln der Taliban schwer vorauszusagen.

Man könnte argumentieren, dass ein Islamist wie der Attentäter von Mannheim gefahrlos nach Afghanistan geschickt werden kann, weil dort Islamisten an der Macht sind.

Dahinter steht die Vermutung, dass eine solche Person in Afghanistan eher gefeiert als bestraft werden würde. Das mag hier und da in islamistischen Kreisen der Fall sein. Soweit ich das beobachte, kamen solche Äußerungen mit Blick auf den Attentäter von Mannheim aber nur von Einzelpersonen aus dem Taliban-Umfeld. Und: Islamist ist nicht gleich Islamist. Es gibt Anzeichen, auch wenn diese bisher nicht hundertprozentig bestätigt sind, dass sich der Täter von Mannheim im Internet über einen bestimmten Prediger radikalisiert hat. Dieser Prediger gehörte den Taliban an und kam vermutlich um 2010 ums Leben. Heute wird dieser Mann von seinen Anhängern jedoch eher im Kontext des Islamischen Staats gefeiert. Wenn die Taliban den Täter von Mannheim in einen IS-Kontext einordnen, dann wäre eine Abschiebung nach Afghanistan für ihn möglicherweise lebensgefährlich.

Weil IS und Taliban verfeindet sind.

Genau, sie sind Todfeinde. Die Taliban gehen sehr rabiat gegen die Konkurrenz vom IS vor, die ihnen die Vorherrschaft in Afghanistan streitig zu machen versucht. Nach ihrer Machtübernahme haben sie IS-Leute aus den Gefängnissen geholt und auf freiem Feld erschossen.

Das deutsche Aufenthaltsgesetz verbietet Abschiebungen in Länder, in denen den Abgeschobenen Verfolgung, Folter oder die Todesstrafe droht, deshalb wurden Abschiebungen nach Afghanistan 2021 vom damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer ausgesetzt. Ist das Leben in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban gefährlicher oder weniger gefährlich geworden?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Der Krieg, der viele Opfer gefordert hat, verursacht von beiden Seiten, ist vorbei. Aber es gibt nach wie vor Terrorismus, unter anderem vom IS. Es gibt auch Anschläge von Gruppen, die sich in der Tradition der vorhergehenden Regierung sehen. Es gibt ethnische Auseinandersetzungen. Und vor allen Dingen gehen die Taliban sehr aggressiv gegen jegliche Opposition vor. Selbst friedliche Demonstrationen, wie es sie bis vor einem Jahr von Frauen gab, sind aus Sicht der Taliban "Rebellion" und damit ein Verstoß gegen den Islam. Es gibt glaubwürdige Berichte, dass in den Gefängnissen der Taliban gefoltert wird. Personen, die in den Augen der Taliban Kompromisse mit dem Westen eingegangen sind, etwa weil sie dort einen Antrag auf Asyl gestellt haben, könnten von ihnen jederzeit als verdächtig eingeordnet werden.

Die schwedische Migrationsbehörde sieht nach einem Papier (pdf) der wissenschaftlichen Dienste des Bundestags kein Hindernis für Abschiebungen nach Afghanistan. Nur die Situation für Frauen und Mädchen habe sich nach der Machtübernahme der Taliban so verschlechtert, dass Abschiebungsentscheidungen für sie nicht vollstreckt werden können. Wie kommt Schweden darauf, dass Abschiebungen für Männer nach Afghanistan möglich sind?

Ich kenne das Papier des Bundestags, nicht aber die schwedischen Gutachten, deshalb kann ich hier nur Vermutungen anstellen. Auch in Deutschland wurden vor 2021 bestimmte Zonen in Afghanistan konstruiert, die mit Blick auf Geografie oder Geschlecht als "sicher" gewertet wurden. So ähnlich wäre es heute, wenn man sagt, dass Männer unter den Taliban nicht oder nicht so stark gefährdet seien. Angesichts der Unberechenbarkeit ihrer Regierungsführung wären Abschiebungen ein Drahtseilakt. Und: Schweden hat Abschiebungen, die über Drittstaaten liefen, seit März offenbar wieder eingestellt, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich dagegen ausgesprochen hat.

Was halten Sie von direkten Gesprächen mit den Taliban?

Ich finde, dass es wichtig ist, mit den Taliban zu reden. Aber damit ausgerechnet beim Thema Abschiebungen anzufangen, finde ich sehr bedenklich. Zumal sich schon die vorherige Bundesregierung mit ihrer Argumentation zur Sicherheitslage in Afghanistan lächerlich gemacht hat. Als die Taliban kurz vor Kabul standen, schrieb das Auswärtige Amt in einem Lagebericht noch, "abgesehen von temporären Straßensperren und akuten Kampfhandlungen bestehen keine dauerhaften Bewegungsbeschränkungen" für Verfolgte und Bedrohte - diese müssten also nicht in Deutschland Asyl suchen, sondern könnten in die größeren Städte Afghanistans ausweichen.

Mir wäre es lieber, man würde mit den Taliban erst einmal über die Menschenrechte reden. Dann kann man, wenn es da Verbesserungen gibt, prüfen, ob bestimmte Rückführungen etwa von schweren Straftätern machbar sind. In einer menschenrechtlich äußerst problematischen Situation Kontakte mit Abschiebungen zu beginnen, finde ich sehr gewagt.

Gibt es Länder, die Abschiebungen nach Afghanistan durchführen?

Aus der Türkei werden viele Afghanen regelmäßig nach Afghanistan zurückgeführt, wie die offizielle Formulierung lautet. Die Türkei behauptet, es handele sich um freiwillige Rückreisen. Es ist bekannt, dass afghanische Flüchtlinge in der Türkei Papiere unterschreiben mussten, die diese Freiwilligkeit bestätigen sollen. Aber die sind auf Türkisch. Viele Afghanen, die später von Nichtregierungsorganisationen befragt wurden, haben gesagt, dass sie nicht wussten, was darin stand. Auch Pakistan und Iran schieben regelmäßig viele Afghanen ab. Aber das ist nicht mit der Situation in Deutschland vergleichbar und sollte nicht als Vorbild dienen. Man sollte eher das schwedische Beispiel bedenken, wo es versucht und zum Teil umgesetzt, dann aber gestoppt wurde.

Weiß man, wie es den Abgeschobenen in Afghanistan ergangen ist?

Die Möglichkeiten, da nachzuforschen, sind stark eingeschränkt. Nicht mal die UN kann sich frei im Land bewegen. Aber wir wissen zum Teil, wie es Leuten ergangen ist, die bis 2021 nach Afghanistan verbracht wurden - zum Teil unter Zwang, zum Teil mehr oder weniger freiwillig. Einige von ihnen sind verschwunden, einige sind im Kriegsgeschehen umgekommen. Von den meisten haben sich die Spuren verloren. Das ist das eigentlich Bedenkliche: Schon damals, mit diplomatischen Beziehungen und eigener Präsenz in Afghanistan, war die Bundesregierung nicht daran interessiert, diesen Schicksalen nachzugehen.

Bundeskanzler Scholz sagte vor zwei Wochen im Bundestag: "Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder haben hier nichts verloren. In solchen Fällen wiegt das Sicherheitsinteresse Deutschlands schwerer als das Schutzinteresse des Täters." Ist das kein nachvollziehbares Argument?

Ich habe keinerlei Sympathien für schwere Straftäter wie den von Mannheim. Aber wir leben in einem Rechtsstaat, und hier gilt auch internationales Recht, das hohe Hürden für Abschiebungen vorsieht. Die UN-Flüchtlingskonvention lässt Abschiebungen schwerer Straftäter nach einer gewissen Haftzeit zu. Aber im Moment scheint Abschiebung als faktische Ersatzstrafe diskutiert zu werden. Ich vermute zudem, dass man den Aufwand mit Verhandlungen nicht für die kleine Zahl der schweren Straftäter und Gefährder betreibt.

In deutschen Gefängnissen sitzen derzeit rund 550 Afghanen, aber das schließt alle Verurteilten ein, nicht nur Schwerkriminelle. Deren Zahl dürfte deutlich kleiner sein.

Wie gesagt - lohnt sich der ganze Aufwand für die? Wohl kaum. Ich nehme an, dass es vor allem um die abgelehnten afghanischen Asylbewerber geht. Das sind über 13.000. Wegen des Abschiebeverbots haben die eine Duldung. Ich denke, dass es eigentlich um diese Personengruppe geht, um daraus politisches Kapital zu schlagen.

Inwiefern?

Kanzler Scholz hat gesagt, dass er im großen Stil abschieben möchte. Und da bietet sich aus seiner Sicht offenbar diese Personengruppe an.

Mit Thomas Ruttig sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen