Politik

Bürgerkrieg nach Truppenabzug? Afghanistans Frauen werden am meisten leiden

Auch die Bundeswehrsoldaten ziehen sich jetzt aus Afghanistan zurück.

Auch die Bundeswehrsoldaten ziehen sich jetzt aus Afghanistan zurück.

(Foto: imago/photothek)

Der Truppenabzug von NATO und US-Streitkräften aus Afghanistan beginnt. Experten fürchten eine Eskalation der Gewalt mit vielen zivilen Opfern bis hin zum Bürgerkrieg - und eine Rückkehr der Taliban an die Macht. Den Preis einer islamistischen Herrschaft würden Frauen bezahlen.

20 lange Jahre. Im November 2001, zwei Monate nach den Anschlägen vom 11. September, bekundete Deutschland uneingeschränkte Solidarität gegenüber dem Bündnispartner USA in ihrem Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Der Bundestag beschloss den Einsatz in Afghanistan, Bundeswehr-Soldaten wurden als Teil der ISAF-Schutztruppen der NATO auch ein Teil des "War on Terror" der US-Amerikaner. Mit der Operation "Enduring Freedom", dauerhafte Freiheit, begann für die USA der längste Krieg ihrer Geschichte. Und einer der blutigsten. Erst 2009 begann die UN mit einer systematischen Dokumentation der zivilen Opfer, mehr als 100.000 Zivilisten wurden seitdem getötet.

Heute beginnt offiziell der komplette US-Truppenabzug aus Afghanistan. Ex-Präsident Donald Trumps Unterhändler hatten den Abzug bis zu diesem (zeitlich kaum einzuhaltenden) Datum mit den Taliban festgelegt. Trumps Nachfolger Joe Biden verlängerte den Rückzug bis zum symbolträchtigen 11. September und legte lediglich den Start der Rückkehr seiner Streitkräfte in die USA auf den 1. Mai. Etwa 10.000 US-amerikanische und NATO-Truppen (darunter 1100 Bundeswehrsoldaten) befinden sich noch im Land. Als Reaktion auf die USA startet nun auch die NATO den Abzug.

Was passiert nun in Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, in dem mindestens 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben? Bei Experten herrscht viel Ungewissheit aufgrund der hoch komplizierten Gemengelage vor Ort und Furcht vor noch mehr Gewalt vor. Nach Informationen des "Spiegel" befürchtet auch die Bundesregierung eine erhebliche Verschlechterung der Sicherheitslage. Ein Bericht des US-Generalinspektors für den Wiederaufbau in Afghanistan (SIGAR) zeichnete gerade die wieder zunehmenden Gefechte in den ersten drei Monaten des Jahres nach, obwohl Friedensgespräche zwischen den militant-islamistischen Taliban und der afghanischen Regierung laufen.

"Scharia könnte zur einzigen Rechtsprechung werden"

"Vor allem stärkt der Abzug der westlichen Truppen die Taliban", sagt Thomas Ruttig ntv.de. Der Co-Gründer und Co-Direktor des Forschungsinstituts Afghanistan Analysts Network gilt international als einer der besten Kenner des Landes und beobachtet nun, wie USA und NATO "den Taliban einen Weg zurück an die Macht ebnen". Sie stünden jetzt nach eigener Ansicht kurz vor dem Sieg. Andererseits seien die westlichen Truppen immer "auch ein Teil des Problems" vor Ort gewesen. Teile der Bevölkerung hätten sich den Taliban über die Jahre immer mehr angenähert aufgrund der Art und Weise, "wie der War on Terror geführt worden ist, auch gegen die Taliban, die nicht an den Anschlägen am 11. September teilgenommen haben".

Das Kräfteverhältnis wird sich wohl weiter in Richtung der Islamisten verschieben. Für die Bevölkerung würde die Rückkehr der Taliban an die Macht die Einschränkung demokratischer und Freiheitsrechte bedeuten - und möglicherweise viel Blutvergießen auf dem Weg dahin. "Unter den Afghanen herrscht eine rapide ansteigende Verunsicherung", erklärt Ruttig mit Hinweis auf Quellen vor Ort. "Weil sie Angst haben vor dem Szenario, dass die Regierung zusammenbricht und die Regierungsstreitkräfte weglaufen oder die Fronten wechseln und sich der herrschende Fraktionskrieg zu einem größeren Bürgerkrieg ausbreitet." Der Afghanistan-Experte hört seit Monaten immer wieder von Leuten vor Ort, dass sie versuchten, das Land zu verlassen.

Besonders besorgt dürften Afghaninnen den Truppenabzug beobachten. Die NATO-Mission brachte seit 2001 zwar einige Verbesserungen und gesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten, aber: Frauen erfahren unter derzeitigen Verhältnissen in Afghanistan immer noch viele Diskriminierungen und Gewalt und werden unterdrückt. Psychosomatische Krankheiten und Depressionen bis hin zur Selbsttötung sind teilweise die Folgen. Es ist im besten Fall eine Teilgleichberechtigung, die regional abhängig ist oder von den persönlichen Familienverhältnissen, die ihnen zuteilwird. "Frauen werden zu den größten Verlierern des Truppenabzugs", sagt Ruttig. "Die Scharia ist bereits eine der vier geltenden Rechtsquellen in Afghanistan. Sie könnte zur einzigen Rechtsprechung werden, wenn die Taliban an der Macht sind." Erstarken fundamentalistische Kräfte, könnten Lynchmorde, Folter, Steinigungen oder Vergiftungen - die Frauen auch heutzutage immer noch erleiden müssen - weitaus frequentierter auftreten.

"Zu entfesseltem Bürgerkrieg eskalieren"

Auch Grünen-Urgestein Winfried Nachtwei fürchtet sich um die Lage der Frauen in Afghanistan. Der Verteidigungsexperte, der als Bundestagsabgeordneter den Start des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan begleitete und heute als Mitglied des Beirats für Zivile Krisenprävention der Bundesregierung und des Beirats für Innere Führung das Verteidigungsministerium berät, weist im Gespräch mit ntv.de aber auch darauf hin, "dass die afghanische Gesellschaft nicht mehr dieselbe ist wie 2001 und dass dies auch für die Taliban gilt". Das zeige sich daran, dass in von den Taliban kontrollierten Gebieten Schulbildung für Mädchen zugelassen wird. Auch im größten Berufsbildungszentrum des Landes, das von Deutschland ermöglicht in Masar-e Scharif gebaut wurde, studierten viele Frauen und das funktioniere bis heute ungestört.

Generell aber seien laut Nachtwei "Wochen vor dem Abzug aller internationalen Truppen und Polizeikräfte die Zukunftsaussichten höchst ungewiss und die Risiken krass". Der ehemalige Bundestagsabgeordnete glaubt angesichts "der Mordkampagne der Taliban seit 2020 vor allem gegen Reformkräfte, Medienleute, gemäßigte Religionsgelehrte im Land" nicht, dass der Truppenabzug den politischen Verhandlungsprozess voranbringen wird. Im Gegenteil. Keineswegs unwahrscheinlich seien "Szenarien, wo Armee und Polizei auseinanderfallen und die einen zu starken Warlords und Milizenführern, andere zu den Taliban überlaufen." Das komplizierte Gemenge könnte dann "zu einem entfesselten Bürgerkrieg eskalieren".

Gehen einige Teilerfolge der fast 20 Jahre langen NATO-Mission nun also bald wieder über Bord? Werden die Fortschritte im Gesundheits- und Bildungswesen, in der Infrastruktur, in den Medien und bei Frauenrechten wieder rückgängig gemacht? Die Situation genau einzuschätzen, erscheint unmöglich. Auch vermehrte Angriffe der Taliban auf die abziehenden Truppen sind denkbar. Es bestünde die Möglichkeit, dass sie "jetzt größere Aktionen fahren, weil die USA den Abzugstermin einseitig verschoben haben", sagt Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Der Experte wäre "überrascht", würde nichts passieren und rechnet "mit einigen Anschlägen, aber auch nicht mit vielen großen".

"Der War on Terror war ein Desaster"

Ebenfalls könnten die Taliban abwarten, bis die Truppen abgezogen sind, und aus ihrer Position der vergrößerten Stärke in Gespräche mit den anderen Fraktionen gehen - zu ihren eigenen Bedingungen. Die Taliban wollen kein Teil der gegenwärtigen Regierung werden, sie wollen regieren - so viel scheint klar. Durch eine Taliban-Herrschaft könnte "die Situation sich auch wieder beruhigen", sagt Ruttig. "Die Sicherheit heben viele Afghanen hervor, wenn sie über die Taliban-Herrschaft vor 2001 sprechen." Die verschiedenen politischen Kräfte müssten sich irgendwie untereinander einigen, dass der Krieg beendet wird und noch mehr zivile Opfer vermieden werden.

Eine Mammutaufgabe mit unsicherem Ausgang steht für die Afghanen bevor. Für die NATO und die USA bedeutet der Truppenabzug dagegen ein politisches Scheitern. Das ursprüngliche Teilziel, Al Kaida zu eliminieren haben sie nur bedingt erreicht; die Terrorgruppe ist zwar in Afghanistan kaum noch aktiv, dennoch gibt es laut UN-Berichten noch einige Kämpfer vor Ort.

Gleichzeitig hat sich durch die Art und Weise des Global War on Terror der militante, dschihadistische Terrorismus weltweit ausgedehnt. Auch Al Kaida ist weltweit stärker als zu Kriegsbeginn und zu einer global organisierten und agierenden Organisation geworden mit vielen Untergruppierungen. "Der War on Terror hat zur Ausbreitung dieser Hydra beigetragen", resümiert Grünen-Politiker Nachtwei: "Der War on Terror war insgesamt ein Desaster." US-Präsident Joe Biden mache sich etwas vor, wenn er sage, dass "Afghanistan kein sicherer Hafen mehr für internationale Terrorgruppen wäre. Das trifft nicht zu." Die Politik mache weiter mit "den vielen Selbsttäuschungen der letzten zwei Jahrzehnte", so Nachtwei.

Stabiler als vor 2001 ist das Land nach 20 Jahren Krieg sicher nicht. "Der Westen muss sich von der Idee verabschieden, dass er in Afghanistan noch viel ausrichten können wird", erklärt Ruttig. Auch der Afghanistan-Experte erkennt ein klares Scheitern des Westens: "Man wollte die Taliban vernichten, jetzt macht man ihnen die Türen auf: Das ist eine ziemliche Kehrtwende." Afghanistan wird aber nicht zwingend wieder zum Zentrum des weltweiten islamistischen Terrorismus werden, sollten die Taliban an die Macht kommen. Terrorgruppen wie den Islamischen Staat bekämpfen sie sogar. "Die Taliban wollen eigentlich Ruhe und in Ruhe regieren können", sagt Ruttig. Weil Afghanistan weiter von internationalen Zuschüssen abhängig ist, könnten auch die Taliban es sich nicht erlauben, die internationale Gemeinschaft zu vergraulen, sodass dann gar kein Geld mehr fließe.

Abschiebung in den Bürgerkrieg

Nach wie vor herrscht vielerorts Gewalt in Afghanistan. In den nächsten Wochen und Monaten ist eine Eskalation zu erwarten. Zivilisten, vor allem Frauen, könnten in mehrfacher Hinsicht vermehrt Opfer einer Zuspitzung der Gewalt bis hin zum voll entfachten Bürgerkrieg werden. Die Wiederaufbaumission, die das Land stabilisieren sollte, ist gescheitert. Die geschaffenen Strukturen, mit denen der Staat verhindern sollte, dass sich Terrorgruppen einnisten oder die Taliban die Macht übernehmen, sind zu schwach.

Die Bundesregierung, vor allem das Innenministerium, scheint das alles jedoch kaum zu interessieren. Der nächste deutsche Sammelabschiebeflug nach Afghanistan startet nur drei Tage nach dem Beginn des Truppenabzugs, am kommenden Dienstag.

Quelle: ntv.de

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