
Joe Biden: Kamen die Geheimdienstinformationen nicht bei ihm an oder ignorierte er sie?
(Foto: REUTERS)
Das US-Militär und die Geheimdienste wussten wohl, was in Afghanistan auf ihre Verbündeten und sie selbst zukam. Doch Präsident Biden gab sich öffentlich unwissend. Wegen des Chaos in Kabul werde Biden "Blut an den Händen" haben, sagen die Republikaner. Sie fordern eine Untersuchung.
Tausende Menschen, die in Panik vor den radikalislamischen Taliban fliehen. US-Soldaten, die den Flughafen von Kabul als letzte Bastion bewachen und hektisch von weiteren aus der Heimat verstärkt werden. Hubschrauber, die Amerikaner vom Dach ihres zurückgelassenen Botschaftsgebäudes wegbringen. Verzweifelte Afghanen, die bei hörbarem Gewehrfeuer aufs Flugfeld schwärmen, sich an Transportmaschinen klammern und irgendwann aus Hunderten Metern hinunter in den Tod stürzen.
Dies sind dramatische Szenen der vergangenen 48 Stunden; Szenen eines zivilen und militärischen Abzugs, der zuvor monatelang geplant worden war. "Was man auf keinen Fall sehen wird ist, dass Menschen vom Dach einer Botschaft aufgelesen werden", hatte US-Präsident Joe Biden noch vor sechs Wochen im Weißen Haus gesagt, als er nach möglichen Parallelen zum verlorenen Vietnamkrieg gefragt wurde. "Höchst unwahrscheinlich" sei es, dass die Taliban das Land komplett übernehmen würden. Die afghanische Führung sei "eindeutig fähig, die Regierung fortzusetzen".
Doch nach 20 Jahren am Hindukusch wird den USA aktuell vor Augen geführt, dass der Krieg dort schneller sein kann als Pläne, Analysen und die Bürokratie. Die amerikanische Kurzbilanz: Der Drahtzieher von 9/11, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, ist tot, dazu einige weitere islamistische Anführer. Dafür ließen 2312 US-Soldaten und Tausende Auftragnehmer ihr Leben, gaben Regierungen unter vier verschiedenen Präsidenten mehr als eine Billion Dollar aus - und die Taliban sind innerhalb von vier Monaten zurück an der Macht, posieren mit Kalaschnikows im Präsidentenpalast. Die US-Botschaft hat ihr Notlager im Flughafen aufgeschlagen.
Wie viel Verantwortung hat Bidens Regierung für das Chaos in Kabul? Als Biden im vergangenen Jahr die Wahl gewonnen hatte, hoffte die afghanische Regierung auf einen Aufschub des Abzugs und eine ständige Truppenpräsenz des amerikanischen Militärs. Sie bekam vier Monate Gnadenfrist. Die US-Regierung hatte so mindestens ein halbes Jahr Zeit, um den Abzug ihres eigenen Personals und ihrer einheimischen Helfer, die Angst vor Racheakten der Taliban haben, zu organisieren. Biden verteidigte sich am Montag, es habe sich eben alles schneller entwickelt als vorhergesehen. Der inzwischen geflohene Präsident Aschraf Ghani habe zudem seine Ratschläge über Verhandlungen mit den Taliban im Juli in den Wind geschlagen und sich auf das Militär verlassen.
Doch schon früh gab es eindeutige Hinweise darauf, dass die afghanische Armee zu schlecht vorbereitet war, um sich den Taliban ernsthaft zu erwehren. Die Republikaner werfen Biden deshalb vor, er werde "Blut an seinen Händen" haben. Die Regierung habe die Stärke der Taliban völlig unterschätzt. Der republikanische Fraktionschef im Repräsentantenhaus forderte eine parlamentarische Untersuchung. Es müsse ans Licht kommen, was die amerikanischen und internationalen Geheimdienste wann wussten über die Lage in Afghanistan. Offenbar viel: Ein Journalist hatte Anfang Juli gegenüber Biden öffentlich insistiert, selbst die US-Geheimdienste seien zu der Einschätzung gelangt, die afghanische Regierung werde wahrscheinlich in sich zusammenbrechen. "Das stimmt nicht. Sie sind nicht zu diesem Schluss gekommen", erwiderte Biden.
Auch die regierungsfreundlichen Medien sparen nicht mit Kritik an der Regierung der Demokraten. Außenminister Antony Blinken etwa musste sich bei CNN erklären, der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan, bei NBC. "Die Schande lastet auf Präsident Joe Biden", schrieb der Journalist George Packer im Magazin "The Atlantic". Die Vorgänge seien "ehrloser Verrat": "Dass wir die Afghanen im Stich lassen, die uns geholfen haben, auf uns gezählt haben, ihre Leben auf uns aufgebaut haben, ist eine letzte, unnötige Schande, die wir hätten vermeiden können."
Erst am Samstag wandte sich das US-Außenministerium mit einer Bitte an Hilfsorganisationen, sie bräuchten Listen mit Namen der Afghanen, die gerettet werden müssten. Die reagierten irritiert bis panisch. "Die Regierung weiß bereits, wer sie sind", sagte ein Helfer zu "Politico". "Vergesst die Visa", wird ein Koordinator der NGO "No One Left Behind" zitiert. Die einzige Option sei nun, innerhalb der nächsten Tage so viele Flugzeuge wie möglich nach Kabul zu schicken, um alle erst einmal auszufliegen. "Es ist völliges Chaos und man hätte vor drei Monaten anfangen müssen", sagte der Vorsitzende von "Wartime Allies", einem Netzwerk für Ortskräfte der US-Armee.
Wiedererwecktes Trauma
Tatsächlich hatten die Taliban schon im Mai, als die internationalen Soldaten begannen, aus Afghanistan abzuziehen, ihre Offensive begonnen. Bei ihren Kampfhandlungen hatten sie nicht nur das Militär der afghanischen Regierung, sondern auch deren zivile Mitarbeiter, Menschenrechtler, Journalisten und religiöse Anführer im Visier, wie die Vereinten Nationen Ende Juli berichteten. Die Zahl der zivilen Opfer ist seither nach oben geschossen. In mehreren Städten suchten Kämpfer der Taliban bereits nach einheimischen Kollaborateuren der US-Armee und der früheren Regierung, berichtet die "New York Times". Polizeibeamte würden gefangen genommen. Aus Kabul gibt es ähnliche Meldungen.
Verteidigungsminister Antony Blinken verteidigt sich gegen die Vorwürfe, die USA erlebten ein weiteres Saigon. Die Parallelen sind jedoch deutlich: Im Jahr 1975 hatten die Nordvietnamesen die Hauptstadt des von den Vereinigten Staaten gestützten Südens erobert und damit endgültig die militärische Niederlage besiegelt - auch wenn die letzten Soldaten schon zwei Jahre zuvor das Land verlassen hatten. Amerikaner und vietnamesische Helfer wurden per Helikopter vom Dach der Botschaft in Saigon weggebracht, während die Stadt in die Hände der Kommunisten fiel. Die aktuellen Bilder aus Kabul haben auch deshalb eine solche Wirkkraft; sie sind ein Déjà-vu für von Vietnam traumatisierte Generationen und vermitteln das Bild einer demütigenden Niederlage.
Im Februar 2020 hatten die Vereinigten Staaten ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet. Sie versprachen darin, sich bis zum 1. Mai 2021 aus Afghanistan zurückzuziehen. Im Gegenzug sicherten die Islamisten zu, das vom Land keine internationalen Terrorangriffe ausgehen würden. Damit erfüllte der damalige Präsident Donald Trump sein Wahlkampfversprechen, den "ewigen Krieg" am Hindukusch zu beenden. Im Herbst 2018 hatte Trump gegenüber seinen Generälen gewütet, ihre Strategie sei völlig gescheitert, er wolle nur noch raus aus Afghanistan.
Blinken sagt, die USA hätten ihr Einsatzziel in Afghanistan erreicht. Dies sei gewesen, "uns um die zu kümmern, die uns am 11. September 2001 angegriffen haben". Die Mission sei erfüllt worden. Die US-Truppen hätte man so oder so abziehen müssen. "Sonst wären wir wieder im Krieg mit den Taliban gewesen." Dieser Konflikt ist in weiten Teilen der US-Öffentlichkeit nicht mehr vermittelbar. 55 Prozent der US-Amerikaner zeigten sich Ende Juli in einer Umfrage von ABC/Ipsos davon überzeugt, dass die Rückzugsentscheidung richtig war. Nur 7 Prozent waren klar gegen einen Abzug des Militärs.
Trotzdem wird Biden wegen der offensichtlichen Fehleinschätzung über die Stärke der Taliban und der entsprechend schlechten Organisation des Abzugs nun kritisiert. "Schneller als wir vorhergesehen haben" hätten die Taliban die Macht übernommen, gibt Blinken zu. Ähnlich äußerte sich auch der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan: "Die Geschwindigkeit, mit der die afghanischen Städte fielen, war schneller als irgendjemand vorhergesehen hatte, inklusive der Afghanen, inklusive vieler Analysten." Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten schlussendlich entschieden, "nicht für Kabul und nicht für das Land zu kämpfen".
Drohung mit Halbwertzeit
Als klar wurde, dass Kabul schnell fallen würde, gab Biden eine Mitteilung heraus. Sollte der Abzug der Amerikaner gestört werden, werde es eine "schnelle militärische Reaktion" geben, drohte der US-Präsident den Islamisten. Der verantwortliche US-General Kenneth McKenzie traf sich am Sonntag in Katar mit Taliban-Vertretern, um die Drohung zu unterstreichen. Die Amerikaner würden den Flughafen mit Waffengewalt verteidigen. Die Taliban versprachen, die Evakuierungen nicht zu behindern. Mindestens zwei bewaffnete Männer sind bislang am Flughafen aufgetaucht und zogen ihre Waffen. Sie wurden von US-Soldaten erschossen.
Doch die Drohung hat eine definierte Halbwertzeit, bis Ende des Monats wollen die USA komplett aus Afghanistan verschwunden sein. Die breite Diskussion in den US-Medien zeigt die unterschiedlichen Auffassungen davon, wie der Krieg zu bewerten ist. Denn ob das Ziel erreicht wurde, ist keinesfalls so klar, wie es die Regierung nun verkauft. Die Terrororganisation Al-Kaida ist zwar dezimiert, aber weiterhin aktiv und mit den Taliban eng verbündet. Bereits vor einigen Jahren hat sich zudem der Islamische Staat Khorasan (IS-K) in der Region formiert, verübt Anschläge und kämpft gegen gemäßigte Kräfte.
Beide Terrorgruppen haben mehrere Hundert Mitglieder, sagen Experten; sie seien derzeit vor allem darauf aus, Afghanistan wieder als Trainings- und Operationsbasis zu etablieren. Auch das benachbarte Pakistan unterstützt eine islamische Führung in Kabul, um die eigenen Interessen gegenüber der Regionalmacht Indien zu wahren.
Der Plan der USA ist, nach ihrem Abzug die potenziell wieder erstarkenden Terrorgruppen mit Geheimdiensten, Drohnen und Einsätzen von Spezialkräften von anderen Stützpunkten in der Region aus im Zaum zu halten. "Die meisten Sicherheitsexperten, die ich kenne, sind entsetzt", sagte der ehemalige britische Außenminister William Hague zu den Plänen. Wenn die nicht greifen, wäre der 20-jährige Einsatz zweifellos gescheitert - und der chaotische Abzug aus Kabul nur eine Episode im Antiterrorkrieg.
Quelle: ntv.de